Pflegegrad 1: Die Debatte zeigt Wirkung
Seit Beginn der öffentlichen Debatte über eine mögliche Abschaffung des Pflegegrads 1 haben mehr Pflegebedürftige als üblich eine Höherstufung aus dem untersten Pflegegrad beantragt. Das ergab eine Umfrage vom MDR Investigativ unter den Medizinischen Diensten und der großen Pflegekassen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
AOK Plus: "merklich" mehr Anträge auf Höherstufung
So bestätigte die größte Pflegekasse in Sachsen und Thüringen, die AOK Plus, einen deutlichen Anstieg und sieht dabei einen klaren Zusammenhang: "Aufgrund der aktuellen öffentlichen Diskussion und Berichterstattung" habe die Zahl der Anträge auf Höherstufung von Pflegegrad 1 "merklich zugenommen", sagte ein Sprecher der AOK Plus MDR Investigativ. Er beruft sich dabei auf interne Auswertungen dieser Pflegekasse.
Auch die DAK meldet bundesweit einen Anstieg: "Nach unseren aktuellen Hochrechnungen ist davon auszugehen, dass die Zahl der Höherstufungsanträge in diesem Jahr erstmals die der Erstanträge übersteigen wird", so eine Sprecherin. Einen konkreten Grund für diesen Trend konnte die DAK jedoch nicht benennen.Neben der AOK Plus wurden auch die AOK Sachsen-Anhalt, die Barmer und die Medizinischen Dienste befragt. Die AOK Sachsen-Anhalt konnte keinen signifikanten Anstieg feststellen, ebenso wenig die Barmer Thüringen. Auch der Medizinische Dienst Thüringen meldete keine auffällige Entwicklung.
Was der Pflegegrad 1?
Beim Pflegegrad gibt es die Stufen 1 bis 5. Sie drücken aus, wie viel Selbständigkeit Betroffene verloren haben. Mit dem niedrigsten Pflegegrad 1 können verschiedene Unterstützungsleistungen beantragt werden, darunter Geld für Haushalts- und Betreuungsleistungen (rund 130 Euro) und für Wohnraumanpassungen (bis zu 4.180 €).
Wie erfolgt eine Ein- oder Höherstufung?
Grundsätzlich ermittelt der Medizinische Dienst mit Begutachtungen, ob eine Beeinträchtigung der Selbstständigkeit vorliegt oder voranschreitet.
Der Medizinische Dienst in Sachsen hingegen bestätigte auf MDR-Anfrage: Die Zahl der Höherstufungsgutachten im Oktober 2025 ist im Vergleich zu den Monaten Januar bis September leicht angestiegen. Ob dieser Anstieg direkt auf die Medienberichterstattung zurückzuführen ist, wollte eine Sprecherin nicht bewerten; das Thema sei dafür noch nicht lang genug medial präsent.
Inwieweit die Debatte tatsächlich Betroffene mit Pflegegrad 1 dazu bewogen hat, rascher die nächst-höhere Pflegestufe zu beantragen, lässt sich derzeit laut Medizinischem Dienst Bund nicht von den vorliegenden Zahlen ableiten. Generell aber sei die Zahl der Begutachtungen insgesamt seit 2020 um knapp 28,8 Prozent auf mehr als drei Millionen gestiegen.
Was hinter der Debatte um den Pflegegrad 1 steckt
Seit Ende September wird bundesweit über eine Abschaffung des Pflegegrades 1 diskutiert. Dabei kursiert auch immer wieder ein angebliches Einsparvolumen von 1,8 Milliarden Euro. Diese Summe basiert auf einer Berechnung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. Sie umfasst alle theoretisch abrufbaren Leistungen für Entlastung und Pflegehilfe der rund 860.000 Berechtigten im Pflegegrad 1 ohne weitere Kosten wie zum Beispiel Umbauten in den eigenen vier Wänden. Laut RWI handelt es sich dabei um einen Maximalbetrag, die tatsächlichen Ausgaben lägen darunter.
Robert Büssow, Geschäftsführer der Barmer Thüringen, kritisiert das scharf: "Ich kenne keine seriösen Berechnungen über mögliche Einsparungen durch den Wegfall des Pflegegrades 1", sagt er MDR Investigativ. Büssow spricht von einer "Scheindebatte", die von einer grundlegenden Pflegereform ablenke und der sich Bund und Länder gerade mit einer Kommission stellten.
GKV: überstürzte Vorschläge verunsichern Menschen
Der GKV-Spitzenverband beziffert die tatsächlichen Ausgaben für Pflegegrad 1 im Jahr 2024 auf 640 Millionen Euro. Das RWI habe in seiner Modellrechnung nicht berücksichtigt, dass nicht alle Anspruchsberechtigten tatsächlich Leistungen in Anspruch nehmen. "Grundsätzlich", so kritisierte ein Sprecher, "bringen solch überstürzte Vorschläge zur Streichung von Leistungen die Pflegeversicherung bei ihren Reformbemühungen keinen Schritt weiter und sorgen stattdessen für Verunsicherung bei den Menschen".
Konkrete Reformvorschläge im Dezember erwartet
Die GKV blickt ihrem Sprecher zufolge nun gespannt auf die Reformvorschläge einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Seit diesem Sommer arbeitet diese an Vorschlägen zur Pflege und deren Finanzierung. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken kündigte an, dass die Ergebnisse Mitte Dezember vorgestellt und in eine umfassende Pflegereform einfließen sollen. In einem Interview mit dem RBB stellte sie außerdem klar: Es gehe um eine inhaltliche Anpassung der Pflegegrade – nicht um deren Abschaffung. Durchaus möglich also, dass der Pflegegrad 1 zwar bestehen bleibt, demnächst aber weniger Leistungen erfasst.
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