Trauma im Kreißsaal: "Für mich war das, was da passiert ist, Gewalt"
- Jede dritte Gebärende erlebt Gewalt bei der Geburt, schätzt der Elternverein Mother Hood.
- Gewalt hat viele Gesichter: von Anschreien, psychischem Druck bis Kristeller-Griff.
- Kommunikation und Geduld sind entscheidend für das Wohlbefinden von Gebärenden.
Elena (Name geändert) bekommt ihr erstes Kind. Es ist ganz schön viel los in der Klinik, es herrscht Stress beim Personal, Trubel auf den Gängen. Elena bekommt Angst vor dem, was passieren wird, passieren könnte, gleich. Sie fährt nach der ersten, wie sie sagt, sehr ruppigen Untersuchung nach Hause. Kurz darauf muss sie aber wieder ins Krankenhaus, es geht nicht anders. Sie liegt im Kreißsaal und weint. Der Arzt, der die Geburt betreut, spricht nur wenig mit ihr. Es dauert alles schon sehr lange.
Dann passiert das Schlimmste, erinnert sie sich: Der Arzt legt sich mit seinem Gewicht auf den Bauch von Elena, die dabei völlig verkrampft; sie hat von diesem Griff gehört. Sie will nicht, dass er angewendet wird – eigentlich. Sie kann aber nichts sagen, ist wie erstarrt. Ihr Baby kommt nach 28 Stunden auf die Welt. Die anschließende Erleichterung ist so groß, dass sie erst einmal nicht weiter über das, was sie erlebt hat, spricht.
Für mich war das, was da passiert ist, Gewalt.
Seitdem ist einige Zeit vergangen. Elena meldet sich auf einen Recherche-Aufruf, denn heute möchte sie von dieser Geburt erzählen. "Das mache ich nur, wenn ich gefragt werde. Ich will anderen keine Angst machen", sagt die 35-Jährige im Gespräch mit MDR AKTUELL. Sie möchte anonym bleiben. Im Rückblick sagt sie: "Für mich war das, was da passiert ist, Gewalt. Es war alles sehr verstörend."
Hilfetelefon für Betroffene von Gewalt (Informationen zum Aufklappen)
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung werden Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung unterstützt – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte können sich melden.
Unter der Nummer 0800 40 40 020 bietet das Hilfetelefon Schwangere in Not anonym, kostenfrei und rund um die Uhr Hilfe und Unterstützung. Die Einrichtung und der Betrieb des Hilfetelefons erfolgt auf der Grundlage des Gesetzes zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt.
Das Hilfetelefon nach schwieriger und belastender Geburt von Mother Hood e.V. ist eine erste Anlaufstelle für Mütter und Väter, die über ihre belastende Geburtserfahrung sprechen möchten und weitere Hilfe suchen. Unter 0228 9295 9970 erreichbar.
Elternverein schätzt jede dritte Frau erlebt Gewalt bei der Geburt
Und damit ist sie nicht alleine. "Fakt ist, es sind keine Einzelfälle. Die Studienlage ist allerdings schwierig. Wir schätzen, dass es 30 Prozent der Gebärenden sind, die Gewalt erfahren", sagt Katharina Desery vom Elternverein Mother Hood. "Das Geburtserleben könnte, wird aber in Deutschland leider nicht überall erfasst." Die Folgen von Gewalt bei der Geburt sind schwerwiegend: Traumatisierung, Depression oder negative Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung.
Wir schätzen, dass es 30 Prozent der Gebärenden sind, die Gewalt erfahren.
Gewalt kann dabei viele Gesichter haben: Anschreien, Auslachen, auch das Verabreichen von Medikamenten ohne vorher zu fragen oder sie zu verweigern; psychischer Druck mit Sätzen wie "Sonst stirbt das Baby" oder "So wird das nichts". Das feste Auf-den-Bauch-Drücken, der sogenannte Kristeller-Griff, wird oft als Gewalt empfunden. Überhaupt ist die Anwendung dieses Griffs wegen hoher Risiken umstritten. Eine deutsche Studie mit 1.000 Befragten aus dem Jahr 2024 gibt an, dass der Griff dennoch in rund einem Fünftel der Fälle angewendet wurde.
Prof. Ekkehard Schleußner ist seit 38 Jahren Geburtshelfer, 20 Jahre davon als Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Universitätsklinikum Jena. Er sagt: "Geburt ist mit dem Erreichen und Überschreiten von Grenzen und mit Kontrollverlust verbunden. Es ist ein Urerlebnis und ein Urschmerz. Es kommt hier besonders auf eine respektvolle Begleitung an." Die abgefragten Daten von Müttern, die in seiner Klinik entbunden wurden sowie andere Studien sprächen seiner Meinung nach dafür, dass etwa zehn Prozent der Gebärenden ein traumatisches, schlechtes Geburtserlebnis hatten.
Rosen machen auf Gewalt im Kreißsaal aufmerksam
Der "Roses Revolution Day" macht auf Gewalt im Kreißsaal aufmerksam. Betroffene hinterlegen an den Orten, an denen sie Gewalt während der Geburt, in der Schwangerschaft oder im Wochenbett erlebten, einen Brief und eine Rose. Auch in Jena wurden am "Roses Revolution Day" schon Rosen abgelegt. "Das hat uns als Geburtsbegleiter natürlich traurig gemacht", sagt Schleußner. Seit drei Jahren findet deshalb in Jena ein öffentliches Podium, immer einen Tag vor dem Gedenktag, zum Thema Gewalt und Trauma bei der Geburt statt. Schleußner engagiert sich darüber hinaus in der Leitlinien-Kommission der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) zu Traumatisierung unter der Geburt.
Wir müssen ganz viel reden und den Prozesscharakter einer Geburt deutlich machen.
"Jede Handlung, jeder Eingriff muss kommuniziert werden. Dazu gehört eine ausführliche Aufklärung vor der Geburt. Wir müssen ganz viel reden und den Prozesscharakter einer Geburt deutlich machen. In meiner Klinik gilt die Regel, dass alles gemeinsam entschieden wird. Außer es kommt zu einer Gefahrensituation, in der sofort gehandelt werden muss. Dann wird auch selbstverständlich informiert, aber es ist keine Zeit für lange Diskussionen." Dann müsse die Kompetenz der Geburtshelfer entscheiden, erklärt Schleußner.
Umfrage zu Geburtsgewalt (Informationen zum Aufklappen)
Von fehlender Aufklärung und respektlosem Verhalten berichten 14 Prozent einer aktuellen Forsa-Umfrage der Handelskrankenkasse zum diesjährigen "Roses Revolution Day". Sie gaben an, während der Geburt Eingriffe erlebt zu haben, über die sie nicht ausreichend informiert oder nicht ausdrücklich um Zustimmung gebeten wurden. 15 Prozent schildern abwertende Kommentare, Druckausübung oder unzureichende Schmerzlinderung durch das Fachpersonal – besonders häufig bei einem ungeplanten Kaiserschnitt.
Katharina Desery verweist ebenfalls auf das Patientenrechte-Gesetz – Gebärende müssten vor Behandlungen gefragt werden und einwilligen. Der Verein bekäme aber immer wieder von Betroffenen die Rückmeldung, dass sich Ärztinnen und Ärzte über das Gesetz hinwegsetzen würden. Jede Klinik und jedes Team könne außerdem aktuell selbst entscheiden, ob das Personal trauma- und kultursensibel geschult wird. Desery fordert deshalb, dass es hier Standards wie ein Geburts-Nachgespräch geben muss.
Der "Roses Revolution Day" am 25. November macht auf Gewalt bei der Geburt aufmerksam. Bildrechte: IMAGO/IPONGeduld und Kommunikation sind entscheidend
Sophia (Name geändert) ist Hebamme in Sachsen und bezeichnet sich selbst als ungewollte Mittäterin. In ihrer Ausbildung habe sie Gewalt, psychische und physische, beobachtet. Heute, als ausgebildete Hebamme, kann sie es besser machen, sagt sie. Die 28-Jährige betont, wie wichtig das Erfragen von Einverständnis bei Untersuchungen ist: "Man denkt immer, es sei Zeitmangel. Aber es ist Gewöhnung. Und es macht einen riesen Unterschied für die Betroffenen."
Initiativen zu Gewalt unter der Geburt (Informationen zum Aufklappen)
Mother Hood e.V. besteht aus Eltern, die sich für sichere Geburten und eine bessere Geburtshilfe engagieren.
Der Verein Traum(a)geburt e.V. bietet Beratung, Schutz und Fürsorge vor, während und nach der Geburt.
Schatten und Licht e.V., eine Selbsthilfe-Organisation zu peripartalen psychischen Erkrankungen.
Schleußner wünscht sich eine Eins-zu-Eins-Betreuung für Gebärende. Die Personalsituation in Mitteldeutschland hätte sich zwar durch den starken Geburtenrückgang der vergangenen Jahre stabilisiert, es herrsche dennoch Kostendruck. "Das Wichtigste ist und bleibt aber Kommunikation und echter Austausch", sagt er. Elena hätte sich damals genau das gewünscht: mehr Kommunikation vom behandelnden Arzt. Der Kristeller-Handgriff habe ihr sehr, sehr viel Angst gemacht. Konfrontiert hat sie den Arzt anschließend nicht. Überlegt hatte sie es sich, aber: "Ich wusste nicht, ob mich das zu sehr aufwühlt", sagt sie.
"So richtig verarbeitet hat man das glaube ich gar nicht", sagt Elena über die Geburt ihres ersten Kindes.Bildrechte: IMAGO / YAY ImagesElena hat zwei Jahre nach der gewaltvollen Erfahrung bei der Geburt ihres ersten Kindes ein weiteres Mal entbunden. Wieder im gleichen Krankenhaus. Dieses Mal aber mit einer Hebamme an ihrer Seite, die sie schon vor der Geburt kennenlernte und der sie vertraute. "Ich habe mit der zweiten, positiven Geburt die erste Erfahrung etwas aufarbeiten können", sagt sie. "Ich weiß dadurch, dass es auch anders geht."
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