MDR AKTUELL: Was sind unsichtbare Behinderungen?

Jonas Fischer, Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim Sozialverband VDK: Menschen mit Behinderung sind so vielfältig wie unsere Gesellschaft insgesamt. Es gibt die sichtbaren Behinderungen, aber es gibt auch Menschen beispielsweise mit psychischen Erkrankungen, Depressionen oder Angststörungen, Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, aber auch Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden, die das Fatigue Syndrom haben. Das haben wir im Nachgang zur Corona-Pandemie vielfach erlebt, und entsprechend ist das Bild da bunter, als man gemeinhin so annimmt.

Gibt es besondere Herausforderungen, mit denen die Betroffenen im Alltag konfrontiert sind?

Die Herausforderungen, die die Menschen haben, sind teilweise deckungsgleich mit anderen Menschen mit Behinderungen. Das bedeutet, wir haben noch immer keine verpflichtende Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft. Das heißt, sie können unter Umständen Geschäfte, Kinos und andere Orte, wo sie hingehen möchten, nicht erreichen – gerade, wenn sie vielleicht gerade schwach sind.

Und auf der anderen Seite haben sie aber die zusätzliche Herausforderung, dass sie unter Umständen auf Hilfe angewiesen sind, diese Hilfe einfordern müssen, das Gegenüber das aber nicht erkennt. Und da kommt dann quasi eine zusätzliche Belastung her, insofern, als dass sie sich erklären müssen, auch wenn sie das vielleicht gar nicht möchten.

Wenn diese Menschen keine Kraft mehr haben, dann führt das häufig dazu, dass sie sich zurückziehen. Das kriegen wir sehr viel mit und das ist natürlich ein katastrophaler Befund, dass unsere Gesellschaft nicht in der Lage ist, diese Menschen zu unterstützen.

Wenn jemand nur ein Bein hat, dann sehe ich seine Behinderung. Also inwiefern begegnen Menschen mit unsichtbaren Behinderungen vielleicht auch im beruflichen Alltag besondere Vorurteile?

Gerade im beruflichen Alltag, aber auch im privaten, erleben diese Menschen das Vorurteil, dass sie vielleicht Simulanten oder faul seien. Das liegt vor allem an der Inkonsistenz ihrer Hilfsbedürftigkeit. An dem einen Tag geht es ihnen gut und sie können im Job alle Aufgaben wahrnehmen. An einem anderen Tag ist es vielleicht schlecht. Und das liegt nicht daran, dass diese Menschen sich das ausgesucht haben, sondern eben an ihrer Behinderung. Und damit verbunden ist ein Unverständnis in der Mehrheitsgesellschaft, diese Ambiguität. Mal geht es der Person gut, mal geht es der Person vielleicht nicht so gut. Und das ist ein großes Problem.

Was kann die Gesellschaft tun, um Betroffenen das Leben vielleicht ein bisschen leichter zu machen?

Die übrige Gesellschaft könnte etwas tun, was nicht nur den Betroffenen helfen würde, sondern uns allen. Und zwar im Alltag mehr Empathie zu zeigen, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der die Person sich so wohlfühlt, dass sie auch bereit ist, vielleicht Hilfe anzunehmen oder Hilfebedarfe anzumelden. Da sind wir sehr im zwischenmenschlichen Bereich, wo wir uns verbessern können.

Auf der anderen Seite, das ist dann eher ein politischer Auftrag, müssen wir als Gesellschaft endlich dahin kommen, eine allgemeine Barrierefreiheit umzusetzen. Das heißt, nicht nur im öffentlichen Bereich, sondern auch im privaten Bereich komplette Barrierefreiheit herzustellen, weil dann müssen diese Menschen gar nicht externe Hilfe in Anspruch nehmen, sondern können sich viel leichter auch selbstständig bewegen.

Es gibt Initiativen, die sagen, Betroffene sollten sich einen Sonnenblumen-Anstecker anheften oder ein anderes Blumensymbol, um sich so als behindert sichtbar zu machen. Was halten Sie von der Idee?

Ich möchte diese Idee nicht abschließend bewerten. Ich glaube, sie kommt aus der Gruppe der Betroffenen. Und wenn sie möchten, dass sie dadurch quasi Vorkehrungen schaffen, unangenehme Gespräche zu vermeiden, dann ist es ihr gutes Recht. Ich glaube, wir dürfen auf keinen Fall dahin kommen, dass das zu einer Verpflichtung wird. Denn dann kommen wir in eine Art Zwangsouting oder in eine Situation, in der sich Menschen in ihrem tiefsten Privatleben offenbaren müssen. Und das kann sicherlich nicht das Ziel sein.

Das Sonnenblumen-Schlüsselband zeigt, wer als Mensch mit unsichtbarer Behinderung mehr Hilfe im Alltag braucht. Unter anderem der Flughafen BER bietet diese Sunflower Badges an. Bildrechte: IMAGO / Depositphotos

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