ADHS bei Erwachsenen: Warum die Zahl der Neudiagnosen explodiert ist
Die Häufigkeit der AD(H)S-Neudiagnosen bei Erwachsenen hat sich von 2015 bis 2024 beinahe verdreifacht. Von 10.000 gesetzlich krankenversicherten Erwachsenen bekamen 25,7 im vergangenen Jahr ADHS diagnostiziert – 2015 waren es lediglich 8,6. Die Daten veröffentlicht das "Deutsche Ärzteblatt International".
Die Zahlen sind erstaunlich, weil man bisher eigentlich davon ausging, dass sich die Symptome für ADHS bereits vor dem siebten Lebensjahr zeigen – also in der Kindheit. Neudiagnosen im Erwachsenenalter waren deshalb in der Vergangenheit eher selten. Das hat sich nun geändert.
ADHS war in der Vergangenheit unterdiagnostiziert
Die Forschenden, die die Daten veröffentlicht haben, gehen davon aus, dass der Zuwachs an Neudiagnosen bei Erwachsenen sich dadurch erklären lässt, dass mittlerweile deutlich mehr Menschen für die Störung sensibilisiert sind. Außerdem könnte die Covid-19 Pandemie die psychische Gesundheit allgemein beeinträchtigt haben.
Dass die Zahl der Neudiagnosen von ADHS so stark gestiegen ist, könnte aber auch damit zusammenhängen, dass die Störung zuvor häufig nicht entdeckt wurde. Bis vor einigen Jahren war ADHS stark unterdiagnostiziert.
Marcel Romanos ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Würzburg. Er sagt, er könne sich vorstellen, dass die Unterdiagnostizierung von ADHS im Erwachsenenalter sich nun langsam reduziere. Grundsätzlich gehe man davon aus, dass etwa 2,5 Prozent der Erwachsenen in Deutschland von ADHS betroffen sind.
Soziale Medien verzerren die Wahrnehmung der Störung
Ein großes Problem stellen aus seiner Sicht Inhalte in sozialen Medien dar. Auf TikTok und Instagram sind Videos und Bilder zu dem Thema aktuell populär. Gerade im Zusammenhang mit Konzentrations- und Motivationsproblemen entsteht schnell der Eindruck, man könnte von ADHS betroffen sein. Romanos betont: "Einige Influencer beschreiben sehr unscharfe und oftmals auch falsche Kriterien von psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen, was zu einer zunehmenden Inflation von Selbstdiagnosen führt." Immerhin ein Viertel der Menschen in den USA vermutet aktuell, ADHS zu haben, so die Ergebnisse einer weiteren Studie. Ob diese Entwicklung nun auch tatsächlich mit der Zunahme von klinischen Diagnosen einhergeht, ist aber nicht klar.
Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, leitet aus den vielen Neudiagnosen ebenfalls eine bessere Sensibilisierung für ADHS ab. "Die Ergebnisse bedeuten, dass das Bewusstsein auch in den Praxen und in den Ambulanzen steigt. Menschen, die bisher unterdiagnostiziert waren, werden nun diagnostiziert und behandelt." Sie sehe das als positive Entwicklung, denn ADHS habe einige Begleiterscheinungen, wie etwa eine gesteigerte Unfallrate. Die Wartezeiten für eine ADHS-Diagnostik seien aus ihrer Perspektive allerdings nach wie vor zu lang. In Bonn warten potenziell Betroffene etwa ein Jahr, so Philipsen.
Man kann durch Social Media kein ADHS bekommen
Dass man durch die Nutzung sozialer Medien ADHS überhaupt erst "bekommen" kann, ist ein Mythos. Aber die Einschränkung von Instagram, Tiktok und Co. kann dabei helfen, mit den Symptomen besser klarzukommen, weil sie ein starker Ablenkungsfaktor sind. Das gilt aber auch für Ablenkungen aus dem nicht medialen Leben.
Dass viele Menschen vermuten, von ADHS betroffen zu sein, könnte auch daran liegen, dass Konzentrationsprobleme gewissermaßen ein Symptom unserer schnelllebigen Umgebung sind. "Die heutige Umgebung, die wir haben, in Form der Medien, die wir haben – die ist für uns alle herausfordernd", hatte Cornelia Exner, Leiterin der psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Universität Leipzig, schon vor einem Jahr gegenüber MDR WISSEN erklärt. Gerade während der Corona-Zeit habe man sich beispielsweise angewöhnt, während Videokonferenzen noch schnell mal die Mails zu checken oder das Smartphone. "Wir haben uns auf diese Weise alle eine Art Aufmerksamkeitsstörung antrainiert", findet die Psychologin.
Hilfe bei Konzentrationsproblemen
Auch denjenigen, die kein ADHS haben, kann es helfen, Struktur zu schaffen und etwa die Ablenkung durch Push-Benachrichtigungen auf dem Handy zu reduzieren. Wer allerdings unter den Symptomen leidet und vermutet, ADHS zu haben, sollte sich professionelle Hilfe suchen. Nach der Diagnose gibt es ein Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten, von mehr Struktur im Alltag über Psychotherapie in Gruppen und allein bis hin zu Medikamenten, die den Betroffenen helfen können.
Mit SMC
Links/Studien
Ivanova M et al (2025): The incidence of AD(H)D spectrum disorders in adults: An analysis of nationwide claims data of the statutory health insurance system in Germany, 2015–2024. Deutsches Ärzteblatt International. Hier kann eine Kurzversion nachgelesen werden.
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