• Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen erklärt im Interview, dass sich Jugendliche nicht nur in den Sozialen Medien radikalisieren.
  • Es gebe ein gesamtgesellschaftliches Problem mit Rechtsextremismus in Deutschland; die Jugendlichen seien nur ein Teil davon, so Nattke.
  • Um radikalisierte Jugendliche zu erreichen, verweist er auf die Jugendarbeit und setzt dabei besonders auf nicht-rechte Jugendliche.

Michael Nattke ist Geschäftsführer des Kulturbüros Sachsen. Er kennt auch die rechtsextreme Jugendszene aus seiner praktischen Arbeit. Herr Nattke, wie sehr hat Sie das denn überrascht, als sie gehört haben, dass die mutmaßliche rechtsextreme Terrorzelle "Letzte Verteidigungswelle" aus 14- bis 18-Jährigen bestand, die verhaftet worden sind?

Die 'Letzte Verteidigungswelle' ist nur ein Beispiel für ähnlich aktionsorientierte jugendliche Neonazis, die es überall in Ostdeutschland gibt.

Michael Nattke, Kulturbüro Sachsen

Tatsächlich beobachten wir schon seit einigen Jahren, dass eine Verjüngung der rechtsextremen Szene stattgefunden hat. Und diese Gruppe, die dort verhaftet wurde, ist nur ein Beispiel für ähnlich aktionsorientierte jugendliche Neonazis, die es gibt – und zwar überall in Ostdeutschland.

Ein paar Beispiele aus Sachsen: Gegen die Christopher Street Days hat die rechtsextreme Szene mobil gemacht. Laut Polizeiangaben waren zum Beispiel in Leipzig bei der Gegendemonstration der Rechtsextremen die Hälfte der Teilnehmer Jugendliche. Es gab den Angriff auf Matthias Ecke im Wahlkampf. Die Täter waren 17 und 18 Jahre alt.

Auch in Halle gab es Demonstration der rechten Szene gegen den Christopher Street Day im September 2024.Bildrechte: picture alliance/dpa | Heiko Rebsch

Wir haben in Bautzen einen "Jugendblock Bautzen". Wir haben in Westsachsen eine "Nationalrevolutionäre Jugend", und das sind Gruppen von Jugendlichen in genau diesem Alter, also ab 13/14, geht es da los. Sie sind schon relativ stark radikalisiert, wenn sie sich diesen Gruppen dann anschließen und mit denen auf der Straße unterwegs sind.

Wo und wie werden die Jugendlichen denn ideologisiert?

Die Wege sind da sehr unterschiedlich. Seit der Corona-Zeit hat die Bedeutung von sozialen Medien noch mal deutlich zugenommen. TikTok zum Beispiel wird hauptsächlich von zwölf bis 19-Jährigen genutzt. Die AfD und andere rechtsextreme Gruppen sind dort sehr aktiv. Das ist ein Aspekt, aber nicht der einzige.

In der Corona-Zeit konnten junge Menschen zudem keinerlei Angebote von politischer Bildung oder irgendwelchen Korrektiven annehmen. Die sozialen Medien sind damals die Ankerpunkte gewesen, und da haben sich natürlich viele Jugendliche radikalisiert.

Die Jugendlichen sind Zielgruppe von rechtsextremen Gruppen.

Michael Nattke, Kulturbüro Sachsen

Sie sind aber auch Zielgruppe von rechtsextremen Gruppen. Also es wird gezielt auf die jungen Leute zugegangen. Das gibt es auch in der Schule und im Jugendclub. Wir haben in der gesamten Gesellschaft ein Rechtsruck, was ja auch an den Zahlen der Wählerzustimmung zum Beispiel zur AfD deutlich wird.

Dieser Rechtsruck in der Gesellschaft, der wirkt natürlich auch im Jugendbereich, weil Jugendliche nicht automatisch bessere Menschen sind, sondern Teil unserer Gesellschaft. Es gibt die organisierten rechtsextremen Gruppen, die Jugendliche gezielt ansprechen, in der Schule, im Jugendclub oder bei sonstigen Dingen, wo Jugendaktivitäten stattfinden.

Dieser Rechtsruck in der Gesellschaft wirkt natürlich auch im Jugendbereich, weil Jugendliche nicht automatisch bessere Menschen sind, sondern Teil unserer Gesellschaft.

Michael Nattke, Kulturbüro Sachsen

Sprechen wir über die Herausforderungen in der Jugendarbeit. Uns hat in einer Reportage von MDR Exactly ein Sozialarbeiter gesagt, dass es sehr schwer sei, mit diesen Jugendlichen zu reden, dass man sie mit Statistiken mit Fakten eigentlich nicht erreichen kann, sondern dass es rein ums Gefühl geht. Ist das auch Ihr Eindruck?

Ja, das ist auch unser Eindruck. Es ist tatsächlich so, dass viele Jugendliche sehr schwer erreichbar sind für so ein klassisches Bildungsangebot. Es geht sehr stark um das Gefühl der Zugehörigkeit. Wenn wir jetzt uns den Namen anschauen der gestern bekannt gewordenen Terrorzelle "Letzte Verteidigungswelle", dann ist das so ein bisschen symptomatisch dafür, wie die Jugendlichen sich fühlen.

Es ist sehr schwer, an diese Jugendlichen ranzukommen, aber ich würde schon sagen: Es ist möglich.

Michael Nattke, Kulturbüro Sachsen

Keine andere Gruppe von Jugendlichen seit dem Zweiten Weltkrieg hat so viele Krisen in ihrer Biografie erlebt. Und da geht es sehr viel um Emotionen und nicht um die Vermittlung ausschließlich von Fakten. Es ist sehr schwer, an diese Jugendlichen ranzukommen, aber ich würde schon sagen: Es ist möglich.

Wir brauchen, dafür gut ausgestattete Regelstrukturen in der Kinder- und Jugendhilfe: Pädagoginnen, die motiviert sind und ausgebildet sind, sich genau mit diesen Themen auseinanderzusetzen, Sozialarbeiter in Teams und in Schulen. Oft sind diese Strukturen unterfinanziert. Und dann ist es sehr schwer, eine Beziehung aufzubauen und mit Jugendlichen überhaupt in Kontakt zu kommen.

... und den Jugendlichen eine andere Normalität zu vermitteln, als sie die vielleicht erleben. Der Magdeburger Extremismusforscher Matthias Quent sagt, das rassistische und verfassungsfeindliche Ansichten inzwischen gesellschaftlich so normalisiert sind, dass es kaum noch möglich ist, dem über ein gelegentliches Angebot etwas entgegenzusetzen und Präventionsarbeit zu leisten.

Wir dürfen das jetzt nicht auf die Jugendlichen abwälzen, sondern wir haben gesamtgesellschaftliches Problem mit Rechtsextremismus.

Michael Nattke, Kulturbüro Sachsen

Ja, ganz genau. Diese jungen Menschen hören das überall. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wir dürfen das jetzt nicht auf die Jugendlichen abwälzen, sondern wir haben ein gesamtgesellschaftliches Problem mit Rechtsextremismus.

Am Küchentisch oder bei der Familienfeier oder eben bei irgendeiner Jugendbegegnung hören die Jugendlichen diese rechtsextremen Einstellungen von Erwachsenen. Und da braucht es eben Pädagoginnen und eine Gesellschaft, die humanistische Werte vermitteln und das nicht einfach im Stundenplan, sondern tatsächlich auch mit dem Beziehungsaufbau mit Jugendlichen.

Geben Sie uns noch einen Eindruck aus Ihrer Arbeit im Kulturbüro, wenn Sie in diese Bereiche gehen, in diese Gruppen, in die Milieus: Welche Art von Jugendlichen tritt ihnen denn hauptsächlich entgegen? Wer hat das Sagen? Wer setzt sich durch?

Bei aller Wichtigkeit des Themas, dürfen wir die Fehler aus dem 1990er-Jahren nicht wiederholen und alle Kraft auf diese rechtsextremen Jugendlichen richten. Es gibt ja einen Großteil von Jugendlichen in der Gesellschaft, die sind nicht rechtsextrem. Die dürfen nicht aus dem Blick geraten.

In Orten, wo es eine starke demokratische Jugendkultur gibt, haben es rechte Jugendliche sehr schwer.

Michael Nattke, Kulturbüro Sachsen

Wir müssen diese nicht-rechten Jugendlichen, diese demokratischen Jugendlichen in der Gesellschaft stärken. Wenn Jugendliche miteinander sprechen, dann ist es natürlich gut, wenn die demokratischen Jugendlichen argumentativ stark sind und mit ihren Altersgenossen dann auch ins Gespräch gehen können. Das erreicht viel mehr, als wenn ein Pädagoge oder Erwachsene vor einer Gruppe von Jugendlichen stehen.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in Orten, wo es eine starke demokratische Jugendkultur gibt und diese auch gefördert wird von der Gemeinde und mit Hilfe verschiedener Projekte, dass es dort rechte Jugendliche sehr schwer haben.

Dort, wo sich demokratische Jugendkulturen entwickeln, wo die auch Räume haben, sich zu treffen, wo auch Gedenkstättenfahrten mit demokratischen Jugendlichen stattfinden und so weiter, da haben rechte Jugendgruppen es einfach sehr viel schwerer, Nachwuchs zu gewinnen. Und das glaube ich, sollte ein Ansatz sein, nicht der einzige, aber einer, der durchaus Wirksamkeit entfalten kann.

Quellen: MDR KULTUR (Ellen Schweda)
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