• Radikalisierung allein im Internet sei eher unwahrscheinlich, sagt Experte Bernd Zywietz. Entscheidend sei das nahe Umfeld.
  • Rechtsextremismus, Islamismus und Linksextremismus sind auf Tiktok zu finden. Es gebe dort einen rechtsextremen Trend, so Zywietz.
  • Rechtsextreme laden deshalb online zu Offline-Freizeitaktivitäten ein.
  • Kinder und Jugendliche haben ein Recht sich zu entfalten und zu informieren. Ein Handyverbot steht dem entgegen.

Bernd Zywietz von Jugendschutz.net, dem Kompetenzzentrum von Bund, Ländern und Landesmedienanstalten für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im Internet, beschäftigt sich in seiner Arbeit mit politischem Extremismus unter jungen Menschen und wie sie im Internet damit in Kontakt kommen. Wir haben ihn zu Rechtsextremismus bei Tiktok und in Memes befragt.

MDR AKTUELL: Herr Zywietz, Sie beschäftigen sich bei Jugendschutz.net mit politischem Extremismus bei Kindern und Jugendlichen. Wie wird Extremismus eigentlich definiert?

Bernd Zywietz: In den westlichen Demokratien bezeichnet Extremismus Ideologien oder politische Mittel, die nicht vereinbar mit der Demokratie, also mit den demokratischen Grundrechten und einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, sind.

Das muss nicht nur die Demokratie sein im Sinne von parlamentarischer Ordnung, sondern eben auch unseren Grundrechten, das heißt der Gleichberechtigung von Menschen. Wenn jemand davon abweicht und gewisse Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer religiösen Zugehörigkeit oder anderen Merkmalen als minderwertig definiert, dann kann man bereits von Extremismus sprechen.

Das ist die inhaltliche Ebene. Das andere ist die Mittel-Ebene, sprich Extremismus kann vollkommen legitime Ziele verfolgen, aber dafür Mittel einsetzen, die eben nicht akzeptabel sind, zum Beispiel politische Gewalt oder sogar Terrorismus.

Gibt es Zahlen, wie viele Kinder in Deutschland extremistisch sind? Lässt sich das bei Kindern überhaupt sagen?

Zahlen haben wir dazu nicht, nein. Dieses Feld ist sehr schwierig, denn wir haben es hier mit einer vulnerablen, schützenswerten Gruppe zu tun. Da gerät auch Einstellungsforschung an Grenzen.

Es ist auch schwierig zu erfassen, wann jemand wirklich extremistisch ist, also ein gefestigtes extremistisches Weltbild hat. Insbesondere bei Kindern, die sich ja noch in der Entwicklung befinden, lässt sich das nicht so einfach bewerten, da eine politische Verfestigung ihrer Persönlichkeit noch gar nicht stattgefunden hat.

Hinzukommt ein bekanntes Phänomen, dass man sich in Jugendjahren orientiert, sich von den Eltern ablöst und eine eigene politische Orientierung sucht. Man probiert in dieser Phase auch gewisse Ideologien, gewisse Sichtweisen, gewisse Haltungen aus. Das ist eine Art Spiel, eine Art Anprobieren von gewissen "politischen Kleidern". Hierbei ist legitim und nicht unüblich, Grenzen auszutesten.

Radikalisierung allein im Internet ist eher unwahrscheinlich.

Bernd Zywietz, Jugendschutz.net

"Verwächst" sich eine extremistische Einstellung also eher bei Kindern?

Kinder und Jugendliche sind vor allem geprägt durch ihr Umfeld, durch die Schule, durch Freunde, durch die Familie. Hier kann Extremismus vorkommen, ebenso im Internet. Dann braucht es gegenläufige Einflüsse in der Schule oder im Bekanntenkreis. Radikalisierung allein im Internet ist eher unwahrscheinlich.

Dr. Bernd Zywietz ist Experte für politischen Extremismus bei Kindern und Jugendlichen.Bildrechte: Jugendschutz.net

Das ist der wichtigste Punkt, wenn wir von Extremisten oder extremistischen Einstellungen im Kinderbereich sprechen: In erster Linie sind die Eltern gefragt, denn sie können Ideologien in einer frühen Entwicklungsphase entgegenwirken.

Wenn jedoch die Eltern selber extremistische Einstellungen haben und auch an ihre Kinder weitergeben, dann haben wir ein ganz anderes Problem. Da wird das Internet bei der Radikalisierung so oder so keine große Rolle spielen.

Tiktok ist eine Video-Plattform, die vor allem bei jungen Menschen beliebt ist. Wie denken Sie in der Hinsicht, was Rechts- und Linksextremismus, Islamismus und Frauenhass angeht, über Tiktok?

Tiktok ist von seinem Aufbau her ein Dienst, der junge Menschen anhält, sich zu inszenieren. Man filmt sich mit seiner Kamera selbst, äußert seine Meinung oder reagiert auch mit Videos auf andere. Das heißt dort sind viele, also von der Reichweite her, "kleine" Influencerinnen und Influencer unterwegs.

Dabei ist durchaus zu beobachten, dass auf Tiktok Rechtsextremismus und Gedanken, die dem Rechtsextremismus zuzuordnen sind, präsentiert werden. Dazu gibt es eine Art Trend, ein rechtsextremer "Chic". User inszenieren sich mit entsprechenden Positionen, singen einschlägige Lieder und erfahren dafür Anerkennung. Doch nicht nur Rechtsextremismus, sondern, wenn auch in geringerem Maße, Islamismus und Linksextremismus sind auf Tiktok wie auf anderen Plattformen zu finden.

Ein anderer wichtiger Aspekt ist der Vorschlag-Algorithmus bei Tiktok. Wenn man auf einige Videos mit bestimmter Weltsicht klickt, spült Tiktok einem immer wieder Inhalte der gleichen Art in die Timeline. So entsteht der Eindruck, alle würden so denken. Daher ein kleiner Tipp: den Algorithmus auch mal zurückzusetzen. Das ist bei Tiktok durchaus möglich.

Welche Bedeutung haben Memes, also Bilder mit Text, die oft als Witze hin und hergeschickt werden, beim Thema Extremismus?

Memes sind eine Form von Humor oder humorigen Inhalten, die fester Bestandteil der Webkultur sind. Es gibt verschiedene Definitionen von Memes, oft aber sind damit Text-Bild-Kombinationen gemeint. Sie sind dafür gemacht, schnell konsumiert zu werden. Memes sind lustig, leicht, setzen aber auch ein gewisses Wissen oder Verständnis voraus.

Memes können auch für extremistische oder populistische Zwecke genutzt werden. Ein Beispiel sind Memes zum so genannten "Stolzmonat", eine rechtsextreme und rechtspopulistische Gegenaktion zum Pride-Month, mit dem eigentlich geschlechtliche und sexuelle Vielfalt gewürdigt wird.

Die Vermischung zwischen menschenverachtendem Gedankengut und Humor ist eine gefährliche Mischung.

Bernd Zywietz, Jugendschutz.net

Man kann ein extremistisches Gedankengut über Memes einschleusen, indem in ein bekanntes Meme-Format entsprechende Botschaften verpackt werden. Die Vermischung zwischen teils menschenverachtendem und demokratiefeindlichem Gedankengut auf der einen Seite und eben Humor auf der anderen Seite, das ist eine gefährliche Mischung.

Nicht allen fällt direkt auf, welches offene oder latent rassistische Denken da ausgedrückt wird. Und die Chance ist groß, dass es verbreitet und normalisiert wird. Entsprechend werden Memes als Formate genutzt, um Extremismus in gewisse soziale und mediale Kreise zu bringen. Besonders Kinder und Jugendliche erfassen oft nicht, was da verbreitet wird und was sie vielleicht selbst weiter im Netz teilen.

Ist das Extremismus-Problem im Internet unter Kinder und Jugendlichen über die Jahre größer, drängender geworden?

Ja, ich denke, dass das Problem drängender geworden ist. Allein weil Kinder und Jugendliche mit sozialen Medien groß werden. Das ist der eine Punkt. Vor 10, 15 Jahren gab es die sozialen Medien noch nicht. Das heißt, da fiel es schwerer mit extremen Videos oder ähnlichem in Berührung zu kommen.

Heute berichten schon Lehrpersonen, dass in Klassenchats Hitler-Memes und dergleichen mehr geteilt werden. Von Kindern, und ich spreche bewusst von Kindern, mit denen noch gar nicht die NS-Zeit in der Schule behandelt wurde. Das heißt, sie kommen mit solchen problematischen, teils sogar strafrechtlich relevanten Inhalten in Kontakt, bevor sie überhaupt eingeordnet werden können.

Auf der anderen Seite ist es so, dass Personen, die sich in den 1990er- und 2000er-Jahren radikalisiert haben, mittlerweile selbst Eltern sind, Kinder haben und ihre extremistische Haltung an sie weitergeben.

Gibt es Mittel, Extremismus unter Kindern aufzuhalten, Stichwort Handyverbot? Oder die App-Betreiber in die Verantwortung nehmen? Was können wir als Gesellschaft oder auch Eltern dagegen tun?

Wir werden mit Technik heutzutage sozialisiert. Ich glaube deshalb, es ist keine Lösung, dahingehend ein Verbot auszusprechen, weil Kinder und Jugendliche auch das Recht haben, am öffentlichen Leben teilzunehmen, sich zu beteiligen, sich zu informieren, sich auszudrücken. Und das geschieht heute maßgeblich über das Internet und vor allem die Sozialen Medien.

Auch gibt es weniger drastische Mittel als ein pauschales Verbot. Es gibt auf technischer Seite die Möglichkeit bestimmte Voreinstellungen für Kinder und Jugendliche zu treffen. Ihnen werden dann nicht alle Inhalte angezeigt oder die Kontaktanbahnung eingeschränkt. Dafür braucht es allerdings eine verlässliche Altersverifikation durch die Dienste. Hier gibt es noch Defizite. Und natürlich müssen sich auch die Erziehenden darum kümmern, was ihre Kinder im Netz so tun und zu sehen bekommen. Sie müssen ihnen vermitteln, wie man damit gut umgeht.

Die beste Präventionsarbeit ist eine gute Jugendarbeit jenseits von Ideologien, sowohl offline wie online.

Bernd Zywietz, Jugendschutz.net

Extremisten geben sich, ich sage es mal ganz vereinfachend und provokant, als eine Art Jugendarbeiter aus. Islamisten gehen im Netz auf alterstypische Fragen und Probleme ein und beantworten sie relativ einfach und eingängig. Oder Rechtsextreme laden online zu Offline-Freizeitaktivitäten ein, zu gemeinsamen Wandertouren oder Gruppenevents mit Lagerfeuerromantik. Deshalb sage ich: Mit die beste Präventionsarbeit ist eine gute Jugendarbeit jenseits von Ideologien, sowohl offline wie online.

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