• Asylrecht darf nur im Notfall umgangen werden
  • Gericht in Berlin erklärt Zurückweisung an Grenze für rechtswidrig
  • Polizei-Gewerkschaft: Polizisten können sich an Grenze strafbar machen
  • Unerlaubte Einreisen seit zwei Jahren rückläufig

Die verschärften Grenzkontrollen sorgen bei der Polizei für Verunsicherung. Die Beamten setzen seit dem 7. Mai eine Anweisung des Bundesinnenministers um. Dabei beruft sich Alexander Dobrindt (CSU) auch auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, weshalb Asylsuchende an der Grenze zurückgewiesen werden können. Doch ob das rechtlich zulässig ist, ist fraglich – möglicherweise verstößt Deutschland damit gegen geltendes EU-Recht.

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) beruft sich in der Anweisung zu Zurückweisungen an der Grenze auch auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit.Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Nach EU-Recht gilt: Personen, die ein Asylgesuch vortragen, dürfen nicht abgewiesen werden. Trotzdem gab der Bundesinnenminister diese Anweisung. Neben anderen sind von der neuen Regelung kleine Kinder und Schwangere ausgeschlossen. Auch die Zahl der Bundespolizisten an den Grenzen wurde aufgestockt.

Wir sehen sehr wohl, dass Zahlen durch Maßnahmen der Vergangenheit reduziert worden sind. Dennoch halten wir sie für nach wie vor zu hoch.

Alexander DobrindtBundesinnenminister

In seiner Begründung am 7. Mai berief sich der CSU-Politiker auf die immer noch angespannte Lage durch viele Asylbewerber: "Wir sehen sehr wohl, dass Zahlen durch Maßnahmen der Vergangenheit reduziert worden sind. Dennoch halten wir sie für nach wie vor zu hoch."

Asylrecht darf nur im Notfall umgangen werden

Nur im absoluten Notfall darf ein Land das europäische Asylrecht umgehen. Diesen will Dobrindt geltend machen. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration, ein Gremium, das die Bundesregierung berät, kritisiert den Innenminister scharf. "Wir haben in den Kommunen angestrengte Situationen in allen Infrastrukturbereichen, die Neuzuwanderung betreffen. Aber das ist regional sehr unterschiedlich", sagt die stellvertretende Vorsitzende des Rates, Professorin Birgit Glorius.

Wenn man das etwas genauer anschaut, bleibt da sehr wenig übrig von einer wie auch immer gearteten Notlage.

Birgit GloriusSachverständigenrat für Integration und Migration

Das liege aber nicht nur allein am Asylzugang, sondern insgesamt an überlasteten Strukturen, so die Professorin für Humangeographie an der TU Chemnitz. Die Kommunen seien über Jahre nicht richtig ausgestattet worden. "Und wenn man das etwas genauer anschaut, bleibt da sehr wenig übrig von einer wie auch immer gearteten Notlage."

Gericht in Berlin erklärt Zurückweisung an Grenze für rechtswidrig

Diese Einschätzung teilt auch die Europarechtlerin Romy Klimke von der TU Dresden. "Ein Notstand bedeutet ganz ernsthafte, besondere Bedrohungen und Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung." Das bedeute, dass es zu Bedrohungen für die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen kommt. "Gegenwärtig fehlen für die Annahme einer solchen Notlage, wenn man den Expertenmeinungen folgt, tatsächlich eigentlich die relevanten Zahlen."

Am 2. Juni entschied das Verwaltungsgericht Berlin, dass die Zurückweisung von drei Somaliern nach Polen rechtswidrig gewesen sei. Europäisches Recht sei anzuwenden, es fehle an der hinreichenden Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit.

Diese Darlegung hat Alexander Dobrindt bis heute nicht erbracht – auch nicht auf Anfrage von MDR Investigativ. Die Anordnung bleibe bestehen, es handele sich um eine Einzelfallentscheidung. Das Verwaltungsgericht habe klar gemacht, dass dass die Situation bei fast allen Geflüchteten, die an der Grenze zurückgewiesen werden, sich ganz ähnlich darstellen dürfte, so Klimke. "Und da haben wir dann schon eine relativ klare Signalwirkung."

Polizei-Gewerkschaft: Polizisten können sich an Grenze strafbar machen

So sorgt die Anordnung des Bundesinnenministers bei der Polizei für Verunsicherung. Denn in der jetzigen Situation könnten sich Polizisten an der Grenze strafbar machen. "Wenn eine ministerielle Weisung, wenigstens nach gerichtlichen Feststellungen, rechtlich nicht zulässig ist, dann müssen die Beamten freigestellt werden von der persönlichen Verantwortung", sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Sven Hüber.

Der Hintergrund: "Denn das Bundesbeamtengesetz sagt: Der Beamte ist für seine Handlung, auch für die Zurückweisung eines Asylsuchenden höchstpersönlich verantwortlich", sagt Hüber. "In den Jahrzehnten, die ich jetzt bei der Bundespolizei bin, ist es mir noch nicht vorgekommen, dass die politische Entscheidung in Kauf nimmt, dass die ausführenden Beamten in Bredouille kommen."

Das Bundesinnenministerium teilt MDR Investigativ dazu mit, dass man den Sachverhalt geprüft habe. Ergebnis: "Eine persönliche Haftung des einzelnen Beamten bzw. der einzelnen Beamtin scheidet grundsätzlich aus."

Unerlaubte Einreisen seit zwei Jahren rückläufig

Fest steht: An allen deutschen Grenzen kam es zwischen 8. Mai und 4. Juni zu rund 3.300 Zurückweisungen – beispielsweise wegen abgelaufener Visa. 160 Personen wurden aufgrund der neuen Weisung zurückgeschickt.

Die Flüchtlingszahlen sind deutschlandweit so niedrig wie lange nicht. Rückblick: 2023 kamen besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland. Polizei und Kommunen standen vor einer großen Herausforderung. Viele wurden durch Schleuser ins Land gebracht.

Um die Lage in den Griff zu bekommen, weitete die damalige Innenministerin Nancy Faeser (SPD) die bereits bestehenden Grenzkontrollen zu Österreich aus – auf Polen, Tschechien und die Schweiz. 2024 dann auf alle deutschen Grenzen. Seitdem sind unerlaubte Einreisen stark rückläufig.

2023 wurden in Deutschland noch rund 128.000 unerlaubte Einreisen registriert. 2024 waren es dann nur noch knapp 84.000. Dieses Jahr gab es bis einschließlich Mai etwas mehr als 25.000 Feststellungen.

Mit der neuen Anweisung begibt sich die Bundesregierung auf rechtlich dünnes Eis – das sorgt für Verunsicherung bei der Polizei. Das Bundesinnenministerium wertet MDR Investigativ gegenüber die Massnahme dennoch als Erfolg: die Zahlen der Asylsuchenden gingen zurück.

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