Politik beginnt vor der Haustür: Wie Nachbarschaften Wahlen entscheiden
Ob wir in einem sanierten Altbau im Szeneviertel wohnen, in einem Einfamilienhaus am Dorfrand oder im Plattenbau am Stadtrand – unsere Wohnumgebung beeinflusst weit mehr als unseren Blick aus dem Fenster. Sie formt unsere sozialen Kontakte, unsere Alltagsroutinen und, wie der Soziologe Ansgar Hudde in seinem Buch "Wo wir wie wählen" zeigt, auch unsere politische Orientierung.
Hudde stützt sich dabei nicht auf grobe Landkreis- oder Stadtvergleichsdaten, sondern analysiert das Wahlverhalten in mehr als 73.000 statistisch abgegrenzten Nachbarschaften – also auf der kleinstmöglichen verfügbaren Ebene. Diese Mikrodaten ermöglichen ihm, Deutschland nicht entlang von Bundeslandgrenzen, sondern entlang tatsächlicher sozialer Räume zu kartieren.
Klein- und Mittelstädte müssen stärker in den Fokus
Haben Sie beim Lesen des ersten Absatzes dieses Artikels etwas gemerkt? Die genannten Beispiele Szeneviertel, Dorfrand, Plattenbau stehen vor allem für Großstädte und ländliche Gebiete. Das ist typisch für politische Beobachtungen, in denen es (neben dem Ost-West-Vergleich) oft um die Unterschiede zwischen Stadt und Land geht, wobei mit "Stadt" dann aber eben fast immer Großstadt gemeint ist.
Ansgar Hudde findet das falsch. Die sogenannten Klein- und Mittelstädte müssen aus seiner Sicht viel stärker in den Fokus. Aus mehreren Gründen. Der erste ist: Dort leben – zwar nicht in jeder einzelnen, aber insgesamt – sehr, sehr viele Menschen.
Der zweite Grund, warum kleinere und mittelgroße Städte wichtig sind: Sie sind der beste Indikator für Bundestagswahlergebnisse, wie Hudde anhand langjähriger Daten zeigt.
"Typischdeutschland" ist eigentlich "typisch Westdeutschland"
Wenn man nach repräsentativen Gemeinden sucht, in denen die Wahlergebnisse möglichst ähnlich wie im bundesweiten Maßstab sind, landet man vor allem in Klein- und Mittelstädten und suburbanen Reihenhaussiedlungen. Ansgar Hudde nennt diese Nachbarschaften mit nahezu repräsentativer Wahlverteilung "Typischdeutschland". Gut zwei Drittel (69,8 Prozent) aller Wählerinnen und Wähler wohnen demnach in Nachbarschaften mit Typischdeutschland-Wahlmuster.
Problem dabei aus ostdeutscher Sicht: "Typischdeutschland" findet sich sehr oft im Westen, aber nur recht selten im Osten. Soziologin Katrin Großmann hat deshalb ein Problem mit diesem Begriff. Damit würden viele Menschen mit Ostbiografie als "Ausreißer" und Abweichung von einer Norm gelten.
Vom streitbaren Begriff abgesehen, bringt "Typischdeutschland" aber eine wichtige Erkenntnis: Die meisten Menschen in Deutschland leben nicht in politischen Blasen, sondern in Nachbarschaften, in denen zumindest grob so gewählt wird wie in Deutschland insgesamt. Im Buch schreibt Hudde, ausgehend von den Bundestagswahlen bis 2021: "Von sieben Deutschen wohnen vier in Nachbarschaften, in denen das Wahlverhalten grob dem Bundestrend entspricht. Eine oder einer von sieben wohnt in einer politischen Blase, und die anderen beiden wohnen in Mischformen und Nachbarschaften, in denen das Wahlverhalten zwar deutlich vom Bundestrend abweicht, die aber dennoch keine politisch einheitlichen Blasen sind." Deutschland sei aus Perspektive der Landkarte daher "weit davon entfernt, räumlich gespalten zu sein".
Deutschlands Nachbarschaften haben vier Wahlmuster
Neben "Typischdeutschland" macht Ansgar Hudde noch drei weitere Wahlmuster aus, die stark mit dem Wohnort und Faktoren wie Bildung, Urbanität, Migration und sozialer Lage in Zusammenhang stehen. Das Wahlmuster "Konservativ" ist vor allem im ländlichen Bayern zu finden, vereinzelt aber auch in anderen Bundesländern. Wahlmuster "AfD-trifft-Linke" (das man laut Hudde inzwischen auch "AfD-trifft-Linke-trifft-BSW" nennen könnte) findet man vor allem im Osten Deutschlands, aber auch nicht nur hier. Und schließlich gibt es noch das Wahlmuster "Grün-Links", zu finden fast ausschließlich in großen Metropolen und Universitätsstädten, aber in allen Teilen Deutschlands.
Diese Muster überschreiten also – mal mehr, mal weniger – die Ost-West-Grenze und wiederholen sich sozialräumlich. Im Buch gibt es große Deutschland-Karten, auf denen man sehen kann, wie sie verteilt sind und wo sie Ballungsräume haben. Wie diese vier Gruppen im Jahr 2021 durchschnittlich gewählt haben, hat Hudde ebenfalls ermittelt – und dabei festgestellt, dass es innerhalb der einzelnen Wahlmuster nur relativ geringe Abweichungen von diesem Durchschnitt gab.
Sehr differenziert widmet sich Hudde der politischen Landschaft Ostdeutschlands. Zwar dominieren dort vielerorts die sogenannten AfD-trifft-Linke-Nachbarschaften, die teils durch Transformationserfahrungen, Abwanderung und strukturelle Unsicherheit geprägt sind – vor allem in Regionen wie Südbrandenburg, der Lausitz oder Vorpommern.
Doch Hudde zeigt auch: Ostdeutschland ist kein homogener Block. In Städten wie Jena, Dresden oder Leipzig finden sich zahlreiche Nachbarschaften mit Typischdeutschland- oder sogar Grün-Links-Muster. Gerade Universitätsstandorte und wirtschaftlich stabile Mittelstädte im Osten weisen ein differenziertes Wahlverhalten auf, das sich deutlich vom oft zitierten AfD-Bild abhebt. Die politische Ost-West-Grenze verläuft laut Hudde also nicht entlang von Bundesländern – sondern entlang sozialräumlicher Trennlinien.
Wahlmuster bleiben stabil, auch wenn sich Parteienlandschaft ändert
Soziologe Ansgar Hudde hatte eigentlich vor, sein Buch vor der Bundestagswahl 2025 zu veröffentlichen. Die vorgezogenen Neuwahlen machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Deshalb sind viele Analysen im Buch nun schon "eine Wahl älter", aber Hudde zeigt, dass die Erkenntnisse auch 2025 Bestand haben, selbst wenn sich das Wahlergebnis stark vom 2021er unterscheidet.
Obwohl sich die Parteienlandschaft in diesem Zeitraum spürbar verändert hat, bleiben die grundlegenden politischen Wahlmuster weitgehend stabil. Das politische Verhalten formt sich nicht primär entlang kurzfristiger Parteientwicklungen, sondern entlang tief verankerter sozialer, kultureller und räumlicher Strukturen. Die vier zentralen Wahlmuster – Typischdeutschland, AfD-trifft-Linke, Grün-Links und Konservativ – bestehen auch nach der Wahl 2025 fort. Sie sind stärker von Faktoren wie Bildung, Urbanität, Milieuzugehörigkeit oder Transformationsgeschichte geprägt als vom tagespolitischen Geschehen.

Hudde betont, dass Wahlergebnisse in bestimmten Nachbarschaften hochgradig vorhersehbar bleiben, selbst wenn sich parteipolitische Zugehörigkeiten verschieben. So konnten in urbanen grün-linken Milieus etwa Stimmenverluste der Grünen teilweise durch Zugewinne der Linken kompensiert werden. In AfD-trifft-Linke-Gebieten im Osten oder in strukturschwachen Regionen blieben die Polarisierungsmuster bestehen – nur die Dominanz verschob sich zugunsten der AfD.
Diese Stabilität auf Muster-Ebene verweist darauf, dass politische Konfliktlinien – etwa zwischen kosmopolitischer Öffnung und traditionalistischer Abgrenzung – fortbestehen, auch wenn sich ihre parteipolitische Verpackung wandelt. Huddes Fazit: Nicht die Parteien, sondern die politischen Milieus sind der verlässlichere Kompass.
Tendenz: Mehr Blasen, weniger Mischung
Allerdings verschärfen sich die regionalen Unterschiede laut Hudde insofern, als die politische Homogenität innerhalb der Nachbarschaften zunimmt. Es entstehen also mehr "Blasen", wo alle ähnlich "ticken", es gibt weniger Mischung. Ansgar Hudde selbst hat auch lange Zeit in solchen Blasen zugebracht, schreibt er. "Ich habe große Teile der vergangenen Jahre in Nachbarschaften von Metropolen und Universitätsstädten gelebt, in denen sich das Wahlverhalten stark von den meisten anderen Regionen der Republik unterscheidet, und die Sozialstruktur ebenfalls."
Das Problem, das Hudde darin sieht, ist, dass das nicht nur für ihn gelte: "Viele von denen, die die Gesellschaft analysieren, kommentieren und gestalten, die also in Wissenschaft, Journalismus und Politik tätig sind, wohnen in solchen Nachbarschaften, die für Deutschland insgesamt nur wenig repräsentativ sind", schreibt er und mahnt zur "Vorsicht vor Bauchgefühl-Gesellschaftsdiagnosen".
Der Soziologe hat für dieses Buch bei weitem nicht nur Daten analysiert, er ist auch durch die Republik gereist, um sich vor Ort in für die einzelnen Wahlmuster typischen Orten und Nachbarschaften umzusehen und viele Gespräche zu führen. "Dabei habe ich nicht nur die politische Landkarte kennengelernt", schreibt er, "sondern auch ein tieferes Verständnis unserer Gesellschaft insgesamt erlangt." Hudde hofft, dass es Lesern seines Buches ähnlich ergehen wird.
Links / Studien
Das Buch "Wo wir wie wählen" ist im Campus Verlag erschienen.
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