Blinde Flecken: Wie in Jena über Gaza gesprochen wurde - und über Israel geschwiegen
Schon der Blick auf Gaza schmerzt: zertrümmerte Häuser, überlastete Krankenhäuser, Straßen voller Staub und Ruinen. Hier liegt ein historisches Trauma. Doch diese Wunde steht nicht isoliert. Sie wurde gerissen durch Gewalt und Eskalation. Es begann am 7. Oktober 2023 mit dem Angriff der Hamas auf Israel.
Über 1.200 Menschen wurden ermordet, Zivilisten - darunter Frauen, Kinder, Alte - brutal getötet, verletzt, vergewaltigt, verschleppt. Der größte Massenmord an Juden seit der Shoah. Seitdem hageln tagtäglich Raketen auf israelische Städte und Dörfer.
Demgegenüber steht die Katastrophe in Gaza. Die Opferzahl ist umstritten, aber unbestreitbar massiv. Die Gesundheitsbehörde im Gazastreifen spricht von über 55.000 Toten, Frauen und Kinder bilden die Mehrheit - erschossen, unter Trümmern begraben, an ihren Verletzungen erlegen, verhungert.
Doch während die humanitäre Lage beklagt wird, wird oft übersehen, dass die Hamas weiter Raketen abfeuert. Und sie hält bis heute Geiseln fest - Männer, Frauen, Kinder - verschleppt am 7. Oktober. Niemand weiß, wo sie sind, ob sie noch leben.
Doch wer über Gaza spricht, ohne den 7. Oktober 2023 zu nennen, sagt nicht die Wahrheit - oder nur einen Teil davon. Genau das geschah jüngst in Jena.
Die Gaza-Veranstaltung in Jena
Am 12. Juni 2025 fand in den Räumen der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) eine Veranstaltung zur medizinischen Versorgung in Gaza statt. Organisiert wurde sie von drei Professoren der Universität Jena: Michael Börsch, Hendrik Süß und Martin Leiner. Letzterer ist Theologe und steht dem Zentrum für Versöhnungsforschung vor.
Ursprünglich sollten Vortrag und Diskussion im Universitätsklinikum stattfinden, doch Klinik- wie Universitätsleitung verweigerten die Raumfreigabe mit Verweis auf das Neutralitätsgebot. Die Veranstalter gingen dagegen juristisch vor, scheiterten mit ihrem Eilantrag aber vor dem Verwaltungsgericht Gera. Schließlich wichen die Veranstalter in kirchliche Räume aus mit der erklärten Absicht, "Raum für Zuhören, Verstehen und Lernen" zu schaffen.
Aussagen, Applaus, Auslassungen
Vor dem Hintergrund der katastrophalen medizinischen Situation in Gaza sprach der eingeladene Referent Dr. Qassem Massri, ein deutsch-palästinensischer Mediziner und Oberarzt an einem Krankenhaus in Berlin, von einer "genozidalen Zerstörung" des Gesundheitssystems. Der Titel wurde später für die öffentliche Dokumentation entschärft in "Systematische Zerstörung des Gesundheitswesens in Gaza?". Die Veranstaltung wurde auf Video aufgezeichnet und dieses hochgeladen - zu sehen ist ausschließlich der Referent.

Als der anwesende Antisemitismusbeauftragte der Universität Jena, Prof. Thomas Kessler - anmerkte, der Krieg habe mit dem Terror der Hamas am 7. Oktober begonnen, verneinte Massri energisch. Das sei ein Mythos. Das Leid habe mit der Gründung Israels begonnen, einem "kolonialen Siedlerprojekt". Die Hamas sei das Ergebnis jahrzehntelanger Unterdrückung.

Zuhörerin spricht von "gewalttätigem israelischen Charakter"
Auch Hinweise auf Raketenabschüsse aus Krankenhäusern oder auf den Missbrauch ziviler Infrastruktur durch die Hamas wurden von Massri relativiert oder bestritten. Auf die Frage, ob sich das Leben der Palästinenser verbessern würde, wenn die Hamas nicht regiere, erklärte Massri, das eigentliche Problem sei die "zionistische Ideologie". Eine Zuhörerin sagte auf Englisch, der wahre Grund des Konflikts sei "der gewalttätige israelische Charakter". Würde man die Israelis davon befreien, ginge es den Palestinensern besser. Massri stimmte ihr zu: "Genau wie den Israelis." Einwände des Antisemitismusbeauftragten wurden unterbrochen, seine Fragen abgewürgt.
Frühe Kritik von jüdischer Seite
Es war nicht die Universität, die zuerst Alarm schlug. Wenige Tage nach der Veranstaltung lancierten die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) und die Jüdische Allianz Mitteldeutschland (JAM) eine gemeinsame Stellungnahme. Darin heißt es: Die Veranstaltung habe "antisemitischer Hetze eine Bühne" geboten. Der Vortrag verhöhne die Shoah, relativiere den Terror der Hamas und delegitimiere Israel in seiner Existenz.
Besonders schwer wog für die Kritiker, dass keinerlei Einspruch gegen antisemitische Aussagen erhoben wurde - weder durch die Veranstalter noch durch die ESG, in deren Räumen der Abend stattfand.
Auch Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, meldete sich zu Wort. In einem Brief an den evangelischen Landesbischof Kramer schrieb er: "Unsere Landesgemeinde hat Herrn Prof. Leiner nach dem 7. Oktober 2023, nach dem Überfall der Hamas auf Israel, leider nicht als ‚Vermittler und Gesprächspartner‘ kennengelernt."
Schramm erinnerte daran, dass es am 7. Oktober nicht um Parolen, sondern um Massenmord ging. "Vor der Rede des Oberarztes zu Gaza hätten Prof. Leiner und seine Lehrstuhlkollegen den mörderischen Feldzug der Hamas als Beginn menschlichen Leids erwähnen müssen."
Uni sieht sich in ihrer Haltung bestätigt
Tage später äußerte sich auch die Universitätsleitung. Uni-Präsident Andreas Marx zeigte sich "bestätigt" in der Entscheidung, der Veranstaltung keinen Raum gegeben zu haben. Der Versuch, eine diskriminierungsfreie Debatte zu ermöglichen, sei gescheitert. Auch der Antisemitismusbeauftragte Kessler meldete sich mit scharfer Kritik.
Die Veranstalter veröffentlichten eine umfassende "Richtigstellung", betonten darin ihr ernsthaftes Anliegen. Der Vortrag sei sachlich gewesen, der Begriff "Genozid" juristisch gedeckt. Man habe sich von der Hamas distanziert. Die fraglichen Aussagen seien missverständlich gewesen, die Diskussion sei offen geführt wordenn. Insbesondere weisen die Veranstalter einen Antisemitismus-Vorwurf zurück.
Wer sich den Videomitschnitt anschaut, erkennt: Es war eben nicht nur ein medizinisch-humanitärer Vortrag. Dabei wäre es möglich gewesen, differenziert zu diskutieren: über die katastrophale Lage in Gaza, über die schwierige Versorgungslage in belagerten Städten, über zerstörte Kliniken und über Kriegsverbrechen auf beiden Seiten.
Hinweis der Redaktion: In einer ersten Fassung dieses Beitrags war davon die Rede, dass es sich um eine Veranstaltung an der Universität Jena gehandelt hat. Das war nicht korrekt. Wir haben dies richtig gestellt und den Text außerdem erweitert und überarbeitet.
MDR (one/co/lou/caf/sar)
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