• Avrom Wolfs Großonkel Fiszel kam beim Massaker in der Feldscheune Isenschnibbe um und wurde auf dem Ehrenfriedhof bestattet. Nun hat Avrom dessen Grab nach langer Suche endlich gefunden.
  • Der Australier spürt in Europa der Vergangenheit seiner Familie nach.
  • Für Avrom ist es als Nachkomme von Holocaust-Opfern auch eine Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte.

Avrom Wolf ist ein großgewachsener Mann. An diesem heißen Sommertag trägt er T-Shirt und Shorts. Dazu seine Kippa, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung. Jetzt kniet er vor dem Stab mit dem Davidstern und der Nummer 108445 – und legt einen Stein auf das Grab davor. Klein ist der, braun, ziemlich unscheinbar. Und doch von großer Bedeutung: "Das ist ein ganz normaler Stein zwischen den anderen, man würde ihn nicht erkennen. Aber ich weiß, dass ich ihn hier hergelegt habe."

Seit gut zwei Jahren recherchiert Avrom in Australien seine Familiengeschichte - und konnte so dank Internet und moderner Vernetzung das große Rätsel der Wolfs klären: Wo ist Großonkel Fiszel, der Bruder des Großvaters? Niemand wusste es, fast achtzig Jahre lang. Doch der große Verlust, die Leere, die sei immer da gewesen, erzählt der 38-jährige Avrom.

Amerikaner stifteten Ehrenfriedhof – Wolfs Großonkel wurde bestattet

Eigentlich ist er Umweltwissenschaftler, inzwischen aber hat er sich zu einem Experten für Geschichte des 20. Jahrhunderts entwickelt, einem besonders finsteren Teil daraus, der NS-Geschichte. Fast alle seine Familienangehörigen wurden während des Shoah ermordet - entweder in Auschwitz oder Treblinka. Oder - wie Großonkel Fiszel - beim Massaker in der Feldscheune Isenschnibbe am 13. April 1945, als mehr als 1.000 KZ-Häftlinge am Ende eines der berüchtigten Todesmärsche dort eingesperrt und teils bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Ohne Befehl, von ganz normalen Deutschen.

Einen Tag danach nahmen Amerikaner die Stadt ein, entdeckten die Leichen und ließen einen militärischen Ehrenfriedhof anlegen. Damals erhielt auch Fiszel sein Grab, nur wusste das niemand. Bis vor zwei Jahren. Da hatte Avrom den Zusammenhang zwischen der Nummer und dem Namen entdeckt.

Nach der Eroberung der Stadt widmeten die Amerikaner den Opfern einen Ehrenfriedhof.Bildrechte: MDR/André Plaul

Erforschung der Familiengeschichte: Reise durch Fiszels Vergangenheit

Jetzt erneut vor dem Grab zu stehen, sagt Avrom, sei noch einmal ganz anders als beim ersten Mal. Inzwischen wisse er viel mehr über das Leben von Fiszel, über seinen Weg von Polen, wo er geboren wurde, über Belgien, wo er lebte. Bis hin zur Deportation nach Auschwitz und bis nach Gardelegen.

Er habe schlichtweg erneut herkommen müssen, erzählt Avrom: "Vorher war das ein abstraktes Ding, ohne physische Verbindung. Jetzt hier zum zweiten Mal herzukommen, aus Australien, von dort einen Stein mitzubringen, um ihn hier niederzulegen als Teil dieser Erkenntnis, dieses Gedenkens. Es ist viel gezielter, viel erfüllender. Es fühlt sich an wie eine komplexere Geschichte. Als würde sich ein Kreis schließen. Ich habe recht naiv angefangen, dann kam der Punkt der Erkenntnis, des Wissens, des Entdeckens. Den Stein lege ich hin mit dem Wissen, was es bedeutet und warum ich es mache."

Avrom ist für einige Wochen unterwegs in Belgien, Deutschland und Polen, spürt den Spuren seiner Familie nach. Entdeckt Gräber, aber auch verschollen geglaubte Verwandschaft.

Überlebende der Shoah: Aufarbeitung der NS-Gräueltaten

Wenn er davon erzählt in seinem ausgeruhten australischem Englisch, dann klingt das auch immer ein bisschen wie die Suche nach Heimat. Mit Romantik hat das jedoch wenig zu tun. Eher mit der Verarbeitung eines Traumas, des Traumas der Überlebenden der Shoah. Avrom gehört der dritten Generation an.

"Jetzt an diesen Orten zu sein, ist in gewisser Weise eine Retraumatisierung, irgendwie auch eine Linderung des Traumas", erzählt Avrom. "Es erlaubt mir, die Geschichte zu verstehen, an dem Ort, wo sie stattgefunden hat. Eben nicht nur die schlecklichen Geschichten zu hören, die keinen Ort, keinen Kontext, kein Gefühl oder greifbare Art von Sinn haben für mich als jemand, der in Australien aufgewachsen ist."

Bei seinem Besuch in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe trägt Avrom nicht nur die Kippa, sondern auch ein T-Shirt mit der Aufschrift Gaza. Ganz klar eine politische Botschaft, für ihn hat die Vergangenheit auch immer etwas mit der aktuellen Politik zu tun. Sein Shirt sieht er als Zeichen für Solidarität und Humanität.

"To be a Mensch" – Letzte Ehrerbietung an Fiszel Wolf

Er spricht ein bisschen jiddisch – und erzählt von einem Begriff, der seine Familie über die Jahre geprägt hat: "To be a Mensch. Das bedeutet, eine Person von Integrität, von Ehre, eine aufrechte Person zu sein, eine, die richtig handelt in der Welt. Etwas, zu dem auch Humanität gehört. Das ist nicht special jüdisch. Everybody can be a Mensch."

Avrom Wolf hat den weiten Weg von Australien nicht zum letzten Mal auf sich genommen, denn noch steht etwas aus an dem Grab seines Großonkels. Er wünscht sich eine kleine Platte: "Dass hier nur seine Häftlingsnummer ist, ist für mich eine Ungerechtigkeit. Und wenn ich mich selbst in diesem Sinne für einen Mensch halte, ist das etwas, was korrigiert werden muss."

Um so Fischel Wolf nach 80 Jahren seinen Namen zurückzugeben.

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