Philosoph Michael Andrick: "Freiheit heißt auch, anders denken zu dürfen"
MDR AKTUELL: Sie sind in Hannover geboren, leben heute aber mit ihrer Familie in Berlin. Durch ihre Familiengeschichte und ihre Eltern sind sie sowohl mit dem Osten als auch mit dem Westen Deutschlands gleichermaßen verbunden.
Michael Andrick: Ja, das stimmt. Meine Eltern sind in Mecklenburg-Vorpommern nach dem Krieg geboren und haben sich Anfang der 70er-Jahre entschieden, dass sie nicht im SED-Staat leben möchten. Sie haben versucht, über die Ostsee mit einem Schlauchboot in den Westen zu kommen. Das ist Missglück. Dann waren sie eine Weile als sogenannte Republikflüchtlinge im Gefängnis. Ich bin dann 1980 in Freiheit in Westdeutschland in Hannover geboren.
Wie hat sich die Geschichte Ihrer Eltern auf ihr Denken ausgewirkt?
Vielschichtig. Einerseits waren meine Eltern extrem loyal gegenüber Westdeutschland und der westdeutschen Einbindung in die Sicherheitsstrukturen der NATO. Sie waren große Amerika-Fans und ich habe als Jugendlicher sehr stark dagegen opponiert. Aber bei uns zuhause war immer klar: Freiheit ist nicht selbstverständlich, sondern muss errungen werden. Sie muss im alltäglichen gesellschaftlichen Leben verteidigt werden, denn Freiheiten, die wir nicht nutzen, sind nichts wert.
Freiheit ist nicht selbstverständlich, sondern muss errungen werden.
Das hat mich schon sehr stark geprägt und deswegen setze ich mich heute für eine freie, breite und offene Diskussionskultur ein. Das ist meines Erachtens die Grundlage einer freien Gesellschaft.
Wie schauen Sie als Philosoph auf Deutschland heute – auf die Politik und Gesellschaft? Was sind aus Ihrer Sicht die wirklichen großen Probleme?
Ich bin überhaupt nur publizistisch tätig, weil es mir um Freiheit geht. Ich verstehe Freiheit, als die Möglichkeit anders zu denken und zu handeln und deswegen auch anders zu leben als andere um mich herum. Je nachdem in welchem Maße ich das kann, in dem Maße bin ich frei oder unfrei. Ich denke, dass es in Deutschland Entwicklungen gibt, die hin zu mehr Unfreiheit gehen.
Weniger als die Hälfte der Bevölkerung sagt heute noch frei und ungezwungen ihre politische Meinung. Da sehe ich ein ganz wesentliches Problem.
Ein guter Indikator dafür ist die wahrgenommene Freiheit in der Meinungsäußerung. Wir haben Artikel 5 im Grundgesetz, der uns verbrieft, wir können frei und ungehindert unsere Meinung bilden und aussprechen. Aber wir haben zugleich eine Wahrnehmung in der Bevölkerung, dass man eben nicht unproblematisch jede politische Meinung äußern kann, die verfassungsgemäß ist. Stattdessen gibt es Angst in der Bevölkerung, Allensbach misst das sehr genau: Weniger als die Hälfte der Bevölkerung sagt heute noch frei und ungezwungen ihre politische Meinung. Da sehe ich ein ganz wesentliches Problem.
Wenn man in einem breiten Meinungsspektrum nicht mehr alle Fragen angstfrei diskutieren kann, dann droht der Kontakt zur Wirklichkeit abzureißen. Das sehe ich als das Grundübel heute – also einen ängstlich gewordenen öffentlichen Diskurs.
Welche Probleme sehen Sie noch?
Außerdem glaube ich, dass wir zu lange eine zu liberale und zu offene Einwanderungspolitik gemacht haben. Wir sehen heute, dass wir eine Vielzahl von Menschen im Land haben, die ökonomisch nicht gut integriert sind und teilweise kulturelle Werte praktizieren, die eher patriarchalisch sind und wenig mit dem Fortschrittsverständnis von westeuropäischen Industrienationen gemeinsam haben. Das bringt kulturelle Spannungen. Wir brauchen einen ehrlichen und offenen Diskurs darüber, was an Integration gelungen ist, was misslungen ist und was man tun kann, um den Menschen zu helfen, besser anzukommen.
Auch da sehe ich leider eine Angstbesetzung der Diskussion. Zum Beispiel, wenn Verbrechen geschehen, die mediale Aufmerksamkeit bekommen, gibt es einen regelrechten Eiertanz darum, bloß nicht die Nationalität der Täter zu nennen, weil man befürchtet – auch nicht immer zu Unrecht – damit fremdenfeindliche Vorurteile zu füttern. Aber andererseits, ohne fremdenfeindliche Vorurteile füttern zu wollen, müssen wir doch mit der Wirklichkeit in Kontakt bleiben. Da hilft es nicht, wenn man die Tatsachen nicht mehr benennt, weil man Angst hat, man könnte damit eine politische Korrektheit verletzen.
Politische Korrektheit halten Sie für überflüssig, wenn nicht gar schädlich für die Demokratie. Warum?
Wir leben in einer Republik. Eine Republik ist eine gemeinsame öffentliche Angelegenheit. Das bedeutet, dass alle Bürger einer Republik gleichberechtigt sind, die Politik miteinander zu gestalten. Was soll denn bitte in einer Gesellschaft, in einem Staat, wo wir alle gleiche Grundrechte genießen, eine politische Korrektheit sein? Eine politische Korrektheit würde bedeuten, es gäbe eine Liste von politischen Meinungen, die man haben muss.
Ich gebe mal ein paar Beispiele, was da drauf stehen könnte: Die Energiewende ist eine gute Sache, die sollten wir alle wollen. Der Klimawandel ist ganz schlimm, dagegen müssen wir was machen. Wir brauchen eine liberale Migrationspolitik, Buntheit und Vielfalt. Solche Sätze könnte man auf so einer Liste von politischer Korrektheit in Deutschland vermuten. Nur wer hätte denn das Recht unter gleichberechtigten Bürgern eine solche Liste aufzustellen? Sodass man gleichsam erstmal diese Meinungen unterschreiben muss, bevor man überhaupt in der öffentlichen Diskussion dabei sein darf.
In diesem Sinne ist politische Korrektheit etwas Undemokratisches und mit einer Republik unvereinbar. Denn es gibt in der Republik keine bevorrechtigten Mitbürger, die mir von vornherein bestimmte politische Auffassungen verbieten könnten. Wir haben anfangs gesprochen über die DDR-Geschichte meiner Eltern. Meine Mutter hat mir berichtet, wie sie in der Schule zurechtgewiesen wurde, weil ihre Aufsätze nicht genug den Klassenstandpunkt reflektiert haben. Du diskutierst falsch, wurde ihr gesagt. Da möchte ich nicht wieder hin, deswegen lehne ich das Konzept einer politischen Korrektheit ab.
Gibt es wirklich keine Situation oder Gelegenheit, bei der ein bisschen politische Korrektheit angezeigt wäre?
Nein, überhaupt nicht. Was es aber sehr wohl gibt – und das ist aber eine allgemeine moralische Frage – es gibt immer Grund unter gleichberechtigten Bürgern einander mit Feinfühligkeit und mit Respekt zu begegnen. Das ist eine moralische Grundtugend, die wir gegeneinander üben sollten, aber das bedeutet nicht, dass bestimmte politische Auffassungen moralisch geboten sind, damit ich überhaupt mitdiskutieren darf. Das ist nicht der Fall.
Wenn wir uns als Gesellschaft in eine Lage manövrieren, wo wir nicht mehr im realen, gefühlten und gedachten Meinungsspektrum diskutieren, dann engen wir auch den Lösungsraum ein.
Wir haben vom Grundgesetz einen klaren Werterahmen vorgegeben und in diesem Werterahmen sind übrigens auch völlig unsinnige Aussagen und Meinungen, die anderen Leuten extrem vorkommen – egal auf welcher Seite des politischen Spektrums. Die sind alle von der Meinungsfreiheit erfasst. Und wenn wir uns als Gesellschaft in eine Lage manövrieren, wo wir nicht mehr im realen, gefühlten und gedachten Meinungsspektrum diskutieren, dann engen wir auch den Lösungsraum ein – also den Raum, in dem wir für die gesellschaftlichen Herausforderungen gut argumentierte Lösungen finden können und das sollten wir nicht tun.
Wie beurteilen Sie das Konzept der Brandmauer?
Das Konzept einer Brandmauer ist sowohl unrepublikanisch als auch undemokratisch und das kann man, denke ich, ganz klar sehen. Denn wem nützt es denn, dass Parteien wie BSW oder AfD, die mittlerweile über 20 Prozent in manchen ostdeutschen Bundesländern in ihrem politischen Willen repräsentieren, von vornherein aus jedem Prozess der Regierungsbildung ausgeschlossen bleiben müssen. Das nützt den Parteien, die bisher in Deutschland die Regierungen gestellt haben.
Das ist deshalb undemokratisch, weil sowohl BSW als auch AfD nicht verboten sind. Wer sich die Mühe macht, die Parteiprogramme zu lesen, der wird nicht den Aufruf zum gewaltsamen Sturz der Republik finden und auch nicht ein Programm, was die Abschaffung der Demokratie fordert. Das sind alles Dramatisierungen und Übertreibungen von Parteien, die gerne selber an der Macht bleiben wollen. Das führt in eine Situation, wo es schwierig wird, in Deutschland einen Regierungswechsel zu wählen.
Stellen Sie sich mal vor, ein Außerirdischer landet vor dem Reichstag in Berlin und man legt ihm das letzte Bundestagswahlergebnis und die Unterschiede der Stimmabgabe zur vorherigen Bundestagswahl vor. Dann würde sich dieser Außerirdische das anschauen und sagen, SPD, FDP und Grüne stark abgestraft, CDU verstärkt, AfD verstärkt, BSW verstärkt, wenn auch nicht reingekommen und die Linke etwas verstärkt.
Was haben die Leute gewählt? Die Leute haben eine Mitte-Rechts-Regierung in Deutschland gewählt. Das würde der Außerirdische sagen. Aber um diese Mitte-Rechts-Regierung zu verhindern, klammert sich Bundeskanzler Friedrich Merz an die Rhetorik der Brandmauer, weil er vermutet, dass die Mehrzahl der maßgeblichen Medien und ihre Meinungsbildner diese Brandmauer für richtig halten.
Es gibt keine Wähler erster und zweiter Klasse in Deutschland. Es gibt keine Bürger erster und zweiter Klasse in Deutschland.
Da kann man sehen, das Politik als Interessenausgleich in der ganzen Breite der Bevölkerung, durch eine Brandmauerrhetorik ausgehebelt wird und deswegen ist sie undemokratisch. Egal, was man von den Positionen der ausgegrenzten Parteien im Einzelnen denkt. Solange die nicht verfassungsfeindlich sind, sind die in den Prozess der politischen Willensbildung einzubeziehen. Denn es gibt keine Wähler erster und zweiter Klasse in Deutschland. Es gibt keine Bürger erster und zweiter Klasse in Deutschland.
Das Interview führte Rommy Arndt.
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