Inhalt des Artikels:

  • Vier Milliarden für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
  • Ähnliche Ziele, ähnliche Projekte und der Wunsch nach einheitlichen Verfahren
  • Warum wurde keine einheitliche Software für Gesundheitsämter entwickelt?
  • Überfordern Ein-für-alle-Länder-Maßnahmen die Länder?
  • Verwaltungsexperte: Sind in alten Systemen hängengeblieben
  • AG Kritis: Defizit bei der IT-Sicherheit

Gesundheitsämter, die unter Papierbergen zusammenbrechen, Bundeswehrsoldaten, die bei der Kontaktverfolgung eingesetzt werden – spätestens als Deutschlands Gesundheitsämter die Corona-Pandemie mit dem Fax-Gerät bekämpfen wollten, wurde auch einer breiten Öffentlichkeit klar, wovor Experten schon lange warnten: Wenn Deutschland sein öffentliches Gesundheitswesen nicht modernisiert und digitaler macht, gefährdet das Menschenleben.

Vier Milliarden für den Öffentlichen Gesundheitsdienst

Mit vier Milliarden Millionen Euro wollte der Bund das richten – Geld, das mit dem "Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)" in das Gesundheitssystem gepumpt wurde. Der Löwenanteil des Geldes war für mehr Personal im Gesundheitsdienst vorgesehen. 800 Millionen Euro davon sollten in die Digitalisierung gehen, 80 Prozent waren für Länder und Kommunen vorgesehen.

Allein in den Kommunen wurden mit Hilfe des Geldes 418 Modellprojekte angeschoben. Drei dieser Projekte betreut Matthias Herrling. 880.000 Euro landeten dafür bei ihm – genauer gesagt: Im Gesundheitsamt des Kyffhäuserkreises, in dem Herrling als Informatiker arbeitet. "Der Pakt für den ÖGD hat uns definitiv dazu geführt, dass wir papierloser sind, dass wir digitaler arbeiten können, dass wir auch schneller arbeiten können, dass wir sehen, woran wir überhaupt arbeiten müssen", sagt Matthias Herrling.

"Als ich mein Vorstellungsgespräch hatte, wurde mir ein Raum gezeigt, wo überall Akten waren, alles papierbasiert", erzählt Herrling von seinen Anfängen, damals noch in Sondershausen. Doch die Papierakten waren nicht das einzige Problem: Es gab keine Standards zum Datenaustausch, die Gesundheitsämter waren digitale Inseln: "Jeder hatte eigene Systeme und das Einzige, was wirklich bei allen gleich war, war das Faxgerät und die E-Mail-Adresse." Das habe sich durch Corona und durch das viele Geld, was in den ÖGD gepumpt worden sei, natürlich drastisch geändert.

Ähnliche Ziele, ähnliche Projekte und der Wunsch nach einheitlichen Verfahren

Doch weil Herrling auch Sprecher im Fachausschuss Digitalisierung des Thüringer Verbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes ist, kann er über den Tellerrand hinausschauen – und sieht: mangelnde Koordination. Weil die meisten Kommunen ähnliche Probleme hatten, hätten sie auch ähnliche Ziele verfolgt – und am Ende hätten darum "alle die gleichen Projekte initiiert". Koordiniert oder aufeinander abgestimmt habe das niemand.

Das gleiche Problem auf der Länderebene: Auch dort hätte man gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme entwickeln können – etwas, das sich auch die Kommunen gewünscht hätten, sagt Herrling, denn dort sehnt man sich nach einheitlichen Verfahren. "Da haben sich sehr viele dagegen gesträubt und haben primär eine Lösung für sich gesucht." Die Folge: drei verschiedene Länder mit drei verschiedenen Fachanwendungen von drei verschiedenen Anbietern, die im Prinzip das gleiche leisten sollten.

Elfa, Länderkoordinierend, Modellprojekt - was sich hinter den Begriffen verbirgt:


Mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst werden Ein-Land-für-Alle (Elfa)-Maßnahmen gefördert. Bei Elfa-Maßnahmen arbeiten mehrere Bundesländer an einem gemeinsamen Ziel. Außerdem werden Ländermaßnahmen gefördert – hier geht es um landesweit zuträgliche Konzepte. Zudem konnten sich Kommunen und Kommunenverbünde Modellprojekte ausdenken.

Was ist mit Fachanwendung gemeint?

Im Prinzip geht es um mehr als eine Software, sondern um verschiedene Module, die den Ämtern unter anderem die Kommunikation untereinander, mit Partnern und mit Bürgern erlauben soll.

Rund 150 Millionen: welches Land was macht:

  • Drei Bundesländer entwickeln eine eigene zentrale Fachlandschaft für ihre Gesundheitsämter: Thüringen, Hessen und Baden-Württemberg. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat dafür mehr als 100 Millionen Euro bewilligt.
  • Vier Bundesländer entwickeln eine bereits vorhandene Fachlandschaft weiter: Sachsen, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Bremen. Das BMG hat ihnen dafür um die 55 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
  • Nicht alle haben sich für einen Extra-Weg entschieden: Berlin prüft explizit die Nachnutzung der aktuellen Entwicklungen. Und Nordrhein-Westfalen hat sich komplett gegen eine länderkoordinierende Maßnahme entschieden.

Warum wurde keine einheitliche Software für Gesundheitsämter entwickelt?

Wäre es wirklich nicht möglich gewesen, dass ein Bundesland gemeinsam mit und für weitere Bundesländer entwickelt, also eine Ein-für-Alle-Maßnahme (ELFA)? Die Gesundheitsministerkonferenz (GMK) verneint das. Während der Antragsphase hätten die Länder einander ihre Projekte vorstellen müssen, um Synergien zu erkennen, heißt es in einer Antwort des Thüringer Gesundheitsministeriums im Namen der GMK. Dabei sei festgestellt worden, dass gemeinsame Verfahrenslösungen nicht möglich seien.

Und so kommt es, dass die umgesetzten Anwendungen sich heute in der Oberfläche und den Funktionen ähneln, technisch aber sehr unterscheiden. In Hessen setzt man auf Open Source, also Software, deren Code öffentlich ist und von allen eingesehen, genutzt und verbessert werden kann. Baden-Württemberg und Thüringen hingegen setzen auf geschlossene Systeme einzelner Hersteller, die neu entwickelt werden oder wurden.

Überfordern Ein-für-alle-Länder-Maßnahmen die Länder?

War der Aufwand für eine ELFA-Koordination schlicht zu hoch? Waren die Länder in der Corona-Krise überfordert? Wollten sie langwierige Koordinierungen und Abstimmungen vermeiden? Klar wird aus einer MDR-Abfrage unter allen 16 Gesundheitsministerien: Einige bezeichnen die Frist zur Antragstellung als herausfordernd bis nicht ausreichend.

Viele hätten in der Phase der Ausschreibungen ähnlich gute Ideen gehabt, meint Peter Tinnemann, Leiter des Gesundheitsamtes Frankfurt am Main. Eigentlich sei es im Rahmen der Projektausschreibung klar ausgeschlossen gewesen, gleiche Ideen doppelt zu fördern: "Wie es dazu kam, dass jetzt doch gleiche Projekte an den Start gegangen sind, ist schon ein bisschen verwunderlich." Ihm sei schleierhaft, wie es trotz anderer Vorgaben zu Doppelförderungen kommen konnte.

Verwaltungsexperte: Sind in alten Systemen hängengeblieben

Bleibt noch eine Frage: Haben die vielen Millionen wenigstens dafür gesorgt, dass das deutsche Gesundheitssystem den lange ersehnten Digitalisierungsschub bekommen hat? Thomas Meuche vom Kompetenzzentrum Digitale Verwaltung der Hochschule Hof ist da pessimistisch: "Wir sind in den Systemen hängen geblieben, die wir eigentlich schon immer haben", sagt Meuche. Eigentlich gehe es derzeit um das kritische Hinterfragen von Prozessen. Doch schlechte Prozesse würden weder durch Digitalisierung noch durch KI besser.

"Vom Zustand des Digitalen sind wir noch weit entfernt", so Meuche. Das schwäche das Vertrauen in den Staat mit fatalen Folgen: Unternehmen und Bürger nähmen den Staat als dysfunktional wahr. "Das ist demokratiegefährdend. Wenn die Menschen (..) das Gefühl haben, dass der Staat eigentlich nicht mehr in der Lage ist, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, dann lehnen sie ihn ab. Das ist die Situation, die wir momentan beobachten."

Hinzu kommt: In den meisten Bundesländern können die Gesundheitsämter frei entscheiden, was sie verwenden. So gibt es heute in Hessen vier Gesundheitsämter, die sich nicht für die in Frankfurt entwickelte Software interessieren. Verpflichtet sind sie dazu nicht. In Thüringen, wo man auf eine eigene Neuentwicklung setzte, ist das nicht anders: "Sofern die fertig wird und fertig ist, getestet ist und man sich einig ist, wie die ganze Finanzierung läuft, werden die Gesundheitsämter dann überlegen, ob sie ihre Fachanwendung wechseln oder ob sie bei ihrer alten Fachanwendung bleiben", meint Matthias Herrling.

Dabei hätte man es besser wissen können: 2021 wurden von der "Gesellschaft für Informatik" und dem "Deutschen Städtetag" gemeinsam die Dresdner Forderungen veröffentlicht; im vergangenen Jahr wurden sie erneuert: "Viele Leuchttürme machen uns nicht dauerhaft digitaler, wenn sie alle immer wieder abgeschaltet werden", heißt es darin. Schon drei Jahre zuvor hatte der Nationale Normenkontrollrat, der die Bundesregierung zum Bürokratieabbau berät, in einem Positionspapier "Leistungsfähige Verwaltung – Zukunftsfester Staat" angemahnt: "Wenn jeder eigenständig agiert, kann aus Vielfalt jedoch auch Chaos erwachsen."

AG Kritis: Defizit bei der IT-Sicherheit

In Zeiten von Cyberangriffen aus dem Ausland bekommt das Thema noch mehr Relevanz. Manuel Atug von der "AG Kritis", einem Zusammenschluss von Expertinnen und Experten rund um die kritische Infrastruktur, warnt: Bei den Ämtern sei noch viel zu tun, um eine effiziente Digitalisierung zu erreichen. Dabei sei die Größe des Problems oft gar nicht sichtbar, aus einem einfachen Grund: Gesundheitsämter müssten weder Schwachstellen noch Systemeinbrüche verpflichtend melden, weil sie nicht als Betreiber kritischer Infrastruktur gelten.

Viel Hoffnung lag auf dem neuen Digitalministerium. Tatsächlich will das Ministerium geeignete Verwaltungsleistungen bündeln und in die Verantwortung des Bundes überführen, so eine Sprecherin gegenüber MDR INVESTIGATIV. Die Hoffnung aber, unkoordinierte Alleingänge im Bereich der Digitalisierung des Öffentlichen Gesundheitswesens könnten in Zukunft der Vergangenheit angehören, diese Hoffnung enttäuscht auch das neue Ministerium schon jetzt: Die kommunalen Gesundheitsämter fielen in die alleinige Zuständigkeit der Länder, eine Koordinierungsfunktion werde man nicht einnehmen, heißt es aus dem Ministerium.

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