Schiri-Boss ärgert sich, dass wichtige Regel falsch verstanden wird
Die Fußball-Zweitligisten sind in die neue Saison gestartet. Zum Auftakt gab es gleich ein großes Spektakel auf Schalke. Alle Highlights des Spiels finden Sie bei RTL+. Auch für die Schiedsrichter wird der Saison-Auftakt gleich eine große Herausforderung. Sie müssen sich auch auf eine Veränderung einstellen. Was von den Unparteiischen in der kommenden Saison erwartet wird, wo sich die Schiedsrichter verbessern und was sich von der Öffentlichkeit fast unbeachtet schon verbessert hat, das erläutert Knut Kircher, ehemaliger Bundesliga-Schiedsrichter und mittlerweile Geschäftsführer Sport und Kommunikation der DFB Schiri GmbH, im Interview mit ntv.de.
Hallo Herr Kircher, die neue Fußball-Saison beginnt an diesem Freitag. Die Zweitligisten sollten bis dahin ihre Hausaufgaben erledigt haben. Wie sieht's bei den Schiedsrichtern aus? Worauf haben sie den Fokus gelegt?
Kircher: Wir wollen, wie in jeder Saison, die Qualität unserer Entscheidungen steigern. Wir sind schon gut, aber da kommt dann der Schwabe in mir durch: Es könnt schon noch ein bissle mehr sein. Dabei beschäftigen uns die immer gleichen Themen. Als Schiedsrichter – da geht es uns nicht anders als den Trainern und Spielern – wollen wir alle, dass die spielentscheidenden Situationen immer richtig bewertet werden. Da geht es vor allem um Strafstöße, um Strafraumsituationen, um gesundheitsgefährdende Vergehen, um Abseits und um Handspiele.
Wie bekommen sie das hin, die Qualität zu verbessern?
Beim Abseits bekommen wir nun technische Unterstützung durch die halbautomatische Abseitserkennung, die uns schneller und präziser machen soll. Bei anderen Entscheidungen gibt es für die Unparteiischen einen klaren Korridor, in dem sie sich bewegen können. Wir wissen, dass wir eine gemeinsame Linie nicht zu 100 Prozent erreichen können und erreichen werden. Aber wir wollen, dass die Entscheidungen in diesem Korridor bei der Regelauslegung vergleichbar und nachvollziehbar sind.
Was bedeutet das denn für den Videoassistenten?
Natürlich fragen wir uns auch immer: Wo soll die Eingriffsschwelle für den VAR liegen? Wenn Sie mich fragen, dann sage ich: bei so klaren Fehlentscheidungen wie dem Wembley-Tor oder der Hand Gottes. Die Schwelle soll jedenfalls hoch sein, das wollen wir ausdrücklich. Der einfachste Weg, um die Eingriffsschwelle zu erhöhen, ist aber die Steigerung der Feldentscheidungsqualität. Mache ich als Schiedsrichter auf dem Feld weniger Fehler, brauche ich insgesamt auch weniger Interventionen des VAR.
Das Thema, das die Fans am meisten nervt, bleibt das Handspiel. Wie ist da die Linie?
Das Handspiel, das wissen wir, wird immer in der Diskussion bleiben. Eine völlig einheitliche Linie, da wiederhole ich mich, werden wir da nicht hinbekommen. Aber wir haben eben diesen Korridor für die Regelauslegung und damit für die Entscheidungen. Und diesen Korridor geben wir ja nicht nur unseren Schiedsrichtern an die Hand, sondern auch den Vereinen. Noch vor dem ersten Spieltag führen unsere Unparteiischen Schulungen bei den Profiklubs durch. Da sind deren Trainerteam und die Spieler komplett anwesend. Anhand von Videomaterial zeigen wir dann, was neu ist und worauf wir besonders achten. Diese Art der Mitnahme ist uns ganz wichtig. Wir brauchen ja auch das Feedback der fußballrelevanten Kompetenz. Bei den Schulungen wird auch mal kontrovers diskutiert. Aber das wollen wir auch.
Wie können Sie denn unterbinden, dass sich diese kontroversen Diskussionen am Spieltag ins Stadion verlagern? Geht das überhaupt?
An Spieltagen gibt es jetzt eine Neuerung, die mit der Kommission Fußball der DFL und der 3. Liga abgesprochen ist: Wir führen den sogenannten Handshake-Dialog ein. 70 Minuten vor Anpfiff kommen Trainer und Kapitäne in die Kabine. Uns geht es darum, dass wir alle nochmal gemeinsam ins Boot holen. Dass wir an die Kapitänsregelung erinnern und an die neue Acht-Sekunden-Regel für die Torhüter. Wir Schiedsrichter wollen mit den Vereinsvertretern darüber sprechen, wie wir die nächsten 90 Minuten gestalten. In dem Wissen, dass es immer wieder zu hitzigen Situationen kommt. Gerade die Kapitäne sind für uns wichtige Ansprechpartner. Sie sind der verlängerte Arm in die Mannschaften.
Wie können die Kapitäne den Schiedsrichtern denn helfen?
Der Kapitän hat Einfluss auf die anderen Spieler, also auch auf jene, die in strittigen Situationen mal emotionaler reagieren. Uns Schiedsrichtern macht das Verteilen von Gelben Karten ja keinen Spaß. Wir setzen ganz klar auf Prävention und Kommunikation. Das gilt auch für den Vierten Offiziellen an der Seitenlinie. Auch er wird beim Handshake mitgenommen. Der Kollege will wissen, was von ihm gebraucht wird, was er an Informationen bieten kann und soll. Er möchte allerdings auch für sich abstecken, was er nicht sehen will. Wild fuchtelnde Menschen auf den Bänken etwa, die das Stadion anzünden. Es gibt Grenzen und die wollen wir miteinander austauschen. Am Ende ist es aber wie bei der Kindererziehung. Wir haben Regeln und müssen bei aller Coolness auf dem Feld, bei aller smarten Spielleitung, auch konsequent bleiben. Wenn es zu viel wird, dann agieren wir.
Haben Sie den Eindruck, dass die Stimmung gegen die Schiedsrichter in den vergangenen Jahren ruppiger geworden ist?
Ganz generell wird in unserer Gesellschaft mittlerweile sehr schnell überreagiert. Es scheint kaum noch Grenzen zu geben. Diese Entwicklung macht auch vor dem Fußball nicht Halt. Dabei sollten wir uns vor Augen führen, dass wir Vorbilder sind, dass wir alle im Schaufenster des Fußballs stehen. Das, was bei uns im Profibereich passiert, setzt sich bei den Amateuren und in der Jugend fort und wird dort nachgeahmt. Im Guten, etwa bei einem originellen Torjubel, aber auch im Schlechten, zum Beispiel bei Rudelbildungen und dem Anlaufen des Schiedsrichters. Deswegen wünsche ich mir, dass wir im Fußball gut miteinander umgehen. Emotionen gehören dazu, Kritik auch. Wir sind kein Flohzirkus, wo sich alle lieb haben müssen, aber wir sollten trotz aller fachlichen Unterschiede vernünftig miteinander umgehen können. Dann haben wir alle Spaß am Fußball.
Im Sinne der Kommunikation und der Deeskalation auf dem Feld wurde ja bereits die Kapitänsregelung eingeführt. Wie blicken Sie auf den Erfolg der Umsetzung?
Die Kapitänsregelung funktioniert insgesamt gut, auch wenn wir uns in der vergangenen Saison an manchen Stellen etwas mehr Konsequenz gewünscht hätten. Hier haben wir in den Trainingslagern noch einmal nachgeschärft. Leider hat sich bei den Teams aber auch ein falsches Bild festgesetzt. Die Kapitänsregelung ist kein Gesprächsverbot für die anderen Spieler. Wenn ein Spieler etwas nicht verstanden hat, kann er jederzeit beim Schiedsrichter nachfragen. Wir wären nicht klug, wenn wir uns diese Form der Kommunikation rauben.
Sie haben gerade eine bessere Feldentscheidungsqualität angesprochen. Haben Sie das Gefühl, dass diese in den vergangenen Jahren schlechter geworden ist?
Von Rückschritten würde ich nicht sprechen. Aber es haben sich gewisse Tendenzen eingeschlichen. Wir wollen deshalb, dass die Schiedsrichter auf dem Feld wieder mehr Vertrauen in ihre Entscheidungen bekommen. Sie sollen sagen: Das ist mein Spiel, das sind meine Entscheidungen. Und es ist ja bereits so, dass die Interventionen des VAR in der vergangenen Saison um 30 Prozent zurückgegangen sind. Das ist eine brutal hohe Zahl. Das zeigt, dass wir auf einem richtig guten Weg sind. Aber wir werden uns jetzt nicht zufrieden zurücklehnen, sondern weitermachen. Der VAR darf nur das Netz, der doppelte Boden für den Schiedsrichter sein. Ich vergleiche das gerne mit einem Hochseilartisten. Der geht ja auch nicht aufs Seil und denkt sich: Wenn ich falle, dann falle ich weich. Der will zu 100 Prozent performen, die perfekte Leistung anbieten. Wenn er dann abstürzt, ärgert er sich. Und so ist das auch bei uns Schiedsrichtern. Wir wollen das perfekte Spiel liefern, und wenn uns das nicht gelingt, dann haben wir den VAR.
Anders als bei Fußballern wird bei Schiedsrichtern selten über das perfekte Spiel gesprochen. Man ist immer noch im Fokus, wenn es um strittige oder falsche Entscheidungen geht. Was motiviert einen da eigentlich?
Ja, das ist wirklich so. Das größte Lob ist, wenn nicht über die Leistung des Schiedsrichters gesprochen wird. Es vergeht auch kaum ein Interview, wo man nicht direkt nach der größten Fehlentscheidung gefragt wird. Aber ich denke trotzdem, dass Schiedsrichter zu sein sehr reizvoll ist. Man ist ja auf der dunklen Seite der Macht (lacht). Man bekommt einen anderen Blickwinkel. Man trifft Entscheidungen und wächst als Persönlichkeit. Und ich täte mich auch schwer damit, jemanden motivieren zu müssen, wenn er die Chance hat, in ein Stadion mit 60.000, 70.000 oder 80.000 Zuschauern einzulaufen und internationale Spiele zu pfeifen. Ich denke aber, der größte Antrieb ist das Streben nach Perfektion, danach, vor solchen Kulissen herausragend zu performen.
Aber man braucht schon auch ein ganz besonderes Gemüt, wenn man sich freiwillig einem ganzen Stadion und den ganzen Anfeindungen stellt, oder nicht?
Ganz ehrlich: In einem riesigen Stadion bekommt man die Beleidigungen nicht so mit. Dann nimmt man nur die großen Impulse von den Tribünen wahr. Im Jugend- und Amateurfußball ist das schon krasser, da siehst du den Menschen, der dich beleidigt. Du schaust ihm direkt in die Augen. Da ziehe ich vor den Jungs und Mädels, die das lange machen, den Hut. Und in der Bundesliga wirst du ja auch gut vorbereitet, bekommst Schulungen, hast Zugang zu Sportpsychologen und ein breites Regal an Möglichkeiten, um dich zu entwickeln.
Sie sprechen die Impulse an, die so ein Stadion sendet. Wirkt sich das in hitzigen Spielen auch mal auf die Entscheidungen der Schiedsrichter aus? Kann man zum Beispiel schnell abhaken, wenn man selbst merkt, dass man etwas falsch entschieden hat?
Man spürt schon, wie sich ein Stadion, eine Atmosphäre aufheizt, wenn plötzlich alles brodelt. Und wenn man zum Beispiel bei 50/50-Entscheidungen dreimal gegen ein Team entschieden hat, dann wird man beim nächsten Mal schon schauen, wie man die Temperatur beherrschbar halten kann. Da reden wir, wohlgemerkt, aber nicht von glasklaren Entscheidungen. Letztlich bringt es nichts, wenn ich denke, ich habe alles richtig gemacht, und trotzdem hängen um mich herum alle am Zaun. Da bekommt das Spielmanagement eine sehr große Bedeutung. Gleichzeitig muss klar sein: Wir verbiegen keine Regeln, sondern setzen auf das Gespür für die Situationen. Aber wenn etwas völlig eindeutig ist, entscheide ich auch entsprechend, ganz egal, ob der Kessel kocht oder nicht.
Für die Klub-WM hatte die FIFA angekündigt, die Bilder des VAR während der Entscheidungsfindung einzuspielen. Das kann doch nicht im Sinne der Schiedsrichter sein, oder?
Das war dann auch nur anfangs so. Die FIFA hat denn schnell gemerkt, dass das so nicht funktioniert. Wir wollen zwar möglichst viel Transparenz, müssen uns aber auch fragen, bis zu welchem Punkt das sinnvoll ist. Wenn wir im Stadion nur Bilder zeigen, auch in Superzeitlupe, nicht aber den Dialog zwischen Schiedsrichter und VAR, der die Entscheidungsfindung begleitet, dann ist man als Fan doch völlig verwirrt und versteht gar nicht, was dahintersteckt. Und in einem lauten Stadion wird das mit der Tonspur nicht funktionieren. Da ist das "Public Announcement", also die Erklärung des Schiedsrichters per Durchsage, der bessere Weg. Da wird der Fan vernünftig abgeholt. Man muss also sehr genau abwägen, wo die Transparenz hilft und wo man vielleicht ein Stadion noch mehr aufwiegelt, sodass es danach womöglich sogar ins Private des Schiedsrichters geht, mit Hassnachrichten oder Drohungen. Denn es bleibt ja eines klar: Menschliche Fehlentscheidungen wird es trotz aller Hilfsmittel weiterhin geben.
Was in dieser Saison auch vermehrt zum Einsatz kommt, ist die Ref-Cam. In England wurde sie eingeführt, um den Schiedsrichter zu schützen. Wie wird das in der Bundesliga gesehen?
In England soll die Ref-Cam die Spieler im Amateurfußball davon abhalten, aggressiv gegen die Schiedsrichter vorzugehen. Die Erfolgsquote ist sehr hoch. Wir haben dafür in Deutschland im Amateurbereich das Stopp-Konzept. So können wir mit Spielunterbrechungen versuchen, die Emotionen wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Die Ref-Cam in der Bundesliga und der 2. Bundesliga ist momentan vor allem eine neue Perspektive, die spektakuläre Bilder liefert, indem sie den Blickwinkel des Schiedsrichters zeigt, die Zuschauer also quasi mit aufs Feld nimmt. Wir hoffen, dass so das Verständnis für die Tätigkeit der Unparteiischen steigt. Für Schulungen hat die Kamera bislang einen untergeordneten Wert. Aber das kann sich ändern. Anhand der Perspektiven kann man vielleicht auch neue Erkenntnisse bekommen, wie man die Schiedsrichterei verbessern kann. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Kamera nur dorthin zeigt, wohin sich der Kopf dreht. Man kann ja mit den Augenbewegungen deutlich andere Blickwinkel haben. Von daher muss man da doch auch vorsichtig sein.
Läuft man mit den Bildern der Ref-Cam aber nicht auch Gefahr, das Verhalten der Schiedsrichter zu beeinflussen, also die Art, wie man so ein Spiel emotional leitet?
Nein, das glaube ich nicht. Unsere Schiedsrichter sind alle Profis genug und schießen nicht über das Ziel hinaus. Der Umgangston darf auch mal rau sein, aber nicht beleidigend. Es ist völlig legitim, das zu hören und zu sehen. Wir wollen ja die Emotionen. Deswegen habe ich auch nicht den Eindruck, dass sich da jemand verstellt. Sie gehen der Weg der gewollten Transparenz mit. Wir wollen ja auch den Menschen zeigen und damit auch mehr Verständnis generieren.
In der vergangenen Saison hat Daniel Siebert den Gladbacher Tim Kleindienst zu Tim Kleinschmidt gemacht. Besteht durch Ref-Cam und Public Announcement nicht auch die Gefahr des Naming-and-shaming?
Ach wissen Sie, auch Trainer verwechseln ihre Spieler manchmal. Und Gladbach hat doch super reagiert, die haben einen witzigen Trikot-Spot darüber gedreht. Das ist doch lustig und gehört dazu. Aber wir empfehlen manchen Kollegen, die sich damit nicht so wohlfühlen, das zuhause regelmäßig zu üben. Das kann eben auch nicht jeder, vor so einer großen Kulisse zu sprechen. Wir haben andererseits auch Schiris, die mit ihrer Art ein ganzes Stadion unterhalten könnten. Aber die Seriosität sollten wir uns schon bewahren.
Zur neuen Saison wird die Acht-Sekunden-Regel für die Torhüter eingeführt. Die Schiedsrichter müssen dem Torwart dann die letzten fünf Sekunden anzeigen, das dürfte auch zu Diskussionsbedarf führen ...
Die Schiedsrichter müssen sich natürlich an das Zählen erstmal gewöhnen. Vor allem auch an die Art und Weise, wie ich den Countdown anzeigen. Und natürlich kann es zu Diskussionen kommen, wenn mal eine Sekunde zu spät losgezählt wird. Das wissen wir und das halten wir aus. Aber auch hier ist die Regel klar definiert. Die acht Sekunden beginnen erst, wenn der Torwart den Ball in den Händen hält UND wenn er unbedrängt ist. Wird er von einem Spieler belagert, läuft seine Zeit noch nicht.
Mit Knut Kircher sprach Tobias Nordmann
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