Sehnsucht nach Glückseligkeit
Wenn es sportlich nicht so gut läuft, schwelgen Fußballfans gern in Erinnerungen und rufen sich erfolgreiche Spiele ins Gedächtnis. Im „Alois S.“, einem Berliner Tapas-Restaurant, in dem seit über 20 Jahren Exil-Bremer Woche für Woche die Spiele von Werder verfolgen, erzählen sie sich ab und an auch von großen, längst vergangenen Partien. Wie von jener am 24. August 2010, in der Markus Rosenberg im Rückspiel der Qualifikation zur Champions League bei Sampdoria genau in der dritten Minute der Nachspielzeit der 1:3-Anschluss gelang, ehe Claudio Pizarro in der 100. Minute das 2:3 erzielte – und Werder damit nach dem 3:1 im Hinspiel in die Königsklasse beförderte.
Nicht nur in dem Berliner Lokal herrschte damals Ekstase pur.
Ganze 15 Jahre ist es nun schon her, dass sich die Norddeutschen, die nach der Gruppenphase ausschieden, letztmals für das internationale Geschäft qualifizieren konnten und damit für glückselige Momente sorgten. Der bislang letzte Meistertitel gelang 2004, der bislang letzte DFB-Pokalsieg 2009. So konstant wie Werder einst national und international Akzente setzte, so konstant bemüht sich der Bundesligaverein seither, an alte Erfolge anzuknüpfen. Nur es gelingt nicht.
Vom jüngsten zum ältesten Trainer der Liga
Clemens Fritz spielte an jenem Abend vor 15 Jahren in Genua auf der rechten Abwehrseite. Seit Juli 2024 ist der 44-Jährige bei Werder Geschäftsführer Fußball und damit Nachfolger von Frank Baumann, der bei Schalke 04 angeheuert hat. Von November 2017 an hatte Fritz bei Werder ein Traineeprogramm durchlaufen, im Anschluss arbeitete er im Scouting und von 2020 an als Leiter Profifußball. Nun aber lenkt und leitet der frühere deutsche Nationalverteidiger die Geschicke der Bremer – und hat gute Erinnerungen an die Partien gegen Genua.
„Im Hinspiel war es mir vergönnt, eines der wenigen Tore in meiner Karriere zu schießen“, erzählt Fritz im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Das Rückspiel sei ein total spannungsgeladenes Spiel gewesen. Er wisse noch, so Fritz, wie Sampdoria-Offensivstar Antonio Cassano bei seiner Auswechslung mit einem leichten Grinsen vom Platz gegangen sei. Genua führte 3:0. „Die haben gedacht, dass das Ding durch ist. Aber dann kamen wir“, sagt Fritz – wohl wissend, dass es eben nur Erinnerungen sind, wenn auch schöne. „Ich weiß, dass ganz Bremen nach Abenden wie diesen lechzt, aber wir müssen geduldig sein. Wir arbeiten hart dran und sind dabei, uns weiterzuentwickeln, und da muss man manchmal einen Schritt zurückgehen, um dann wieder zwei Schritte nach vorn zu machen.“
Bis Freitag weilte Werders Team in Österreich, um sich dort auf die neue Saison vorzubereiten, die für Werder am 23. August mit dem Spiel bei Eintracht Frankfurt beginnt. Elf Tage war die Mannschaft um den neuen Trainer Horst Steffen dort. Der Coach, der in der vergangenen Spielzeit mit der SV Elversberg, dem Überraschungsteam der Zweiten Liga, in der Relegation gegen den 1. FC Heidenheim nur knapp den Bundesligaaufstieg verpasst hatte, folgte auf Ole Werner. Von dem hatte sich Werder nach dreieinhalb Jahren getrennt, weil der 37-Jährige seinen Vertrag nicht vorzeitig verlängern wollte. Werner ist nun Cheftrainer bei RB Leipzig – der 19 Jahre ältere Steffen bei Werder. Damit vollzog der Klub einen Wechsel vom jüngsten zum ältesten Trainer der Liga.
Trainer holt sich Inspiration vom Neurobiologen
Für Horst Steffen ist es der erste Job im Oberhaus des deutschen Fußballs. Nach dem Ende der Spielerkarriere 2003 trainierte er unterklassige Teams wie Preußen Münster, den Chemnitzer FC oder Elversberg. Bei Werder sind sie froh, ihn zu haben. Es sei ihnen wichtig gewesen, erzählt Geschäftsführer Fritz, einen Coach zu finden, „mit dem wir nicht unsere Spielweise über Bord werfen, sondern weiter einen mutigen, offensiven und intensiven Fußball spielen. Dafür steht Werder – und dafür steht Horst Steffen. Wir sind überzeugt, dass er menschlich, charakterlich und durch seine Persönlichkeit total zu Werder passt. Das Positive, das er mitbringt, und auch die Gelassenheit, die er ausstrahlt, stehen uns gut zu Gesicht, mal abgesehen vom Anspruch, den er an sich hat – und an die Mannschaft, die sehr neugierig und willens ist.“
Steffen hat viel gearbeitet mit den Spielern seit dem Start der Vorbereitung Anfang Juli. Die Einheiten waren intensiv – und teils sehr lang. Aber Steffen hat auch viele Interviews gegeben, in denen er unter anderem über seine Vorstellung von Fußball sprach, seinen Wertekompass – und von sich erzählte.
In der „Bild“ etwa ließ der Trainer, der selbst 207 Bundesligaspiele absolvierte, wissen, dass er sich Inspiration vom Neurobiologen Gerald Hüther holen würde, um negative Gefühle abzulegen. Er habe Bücher von ihm gelesen und sich Videos von ihm angeschaut. „Da habe ich gelernt, dass Weiterentwicklung nur möglich ist, wenn der Mensch sich wohlfühlt“, sagte Steffen und berichtete von einer inneren Einkehr vor dem Schlafengehen: „Ich habe mal einen guten Satz gehört: Die letzten zehn Minuten deines Tages sollten deine sein. So halte ich es. Da reflektiere ich den Tag und mein Verhalten: Warum habe ich mich aufgeregt? Ich kann so negative Energie rausnehmen und Klarheit entstehen lassen. Dazu gehört auch Meditation.“
Was die Stimmung betrifft, die das Meditieren bekanntlich heben kann, gab es Mitte der Woche jedoch einen kleinen Dämpfer. Linksaußen Samuel Mbangula, kürzlich erst für zehn Millionen Euro von Juventus Turin verpflichtet und damit nach Davy Klaasen, für den Werder 2018 an den FC Everton 13,5 Millionen zahlte, der zweitteuerste Transfer der Klubgeschichte, zog sich eine Kapselverletzung zu. Er muss vorerst pausieren. Mbangula ist neben Maximilian Wöber, der auf Leihbasis von Leeds United kam, erst der zweite Zugang. Demgegenüber stehen die Abgänge von Oliver Burke (1. FC Union), Anthony Jung (SC Freiburg) und Milos Veljkovic (Roter Stern Belgrad). Der Kaderwert von Werder beträgt 133,8 Millionen Euro, was Platz zwölf im Ranking aller Erstligavereine bedeutet. Zum Vergleich: Der Kader des FC Bayern hat laut transfermarkt.de einen Wert von 942 Millionen Euro.
Ob und wann Werder sich noch verstärken oder Spieler abgeben wird, bleibt abzuwarten. Die vergangenen Jahre, sagt Geschäftsführer Fritz, hätten gezeigt, dass alles seine Zeit brauche und man Geduld haben müsse. Gut sei, dass Bremen keine Stammkräfte abgegeben habe. Von denen sind derzeit aber drei verletzt: Jens Stage (Fuß), Marvin Duksch (Wade) und Mitchel Weiser. Letzterer zog sich Mitte Juli einen Kreuzbandriss zu und fällt mehrere Monate aus.
Auf die Frage, was der Plan und das Ziel für die neue Saison seien, entgegnete Geschäftsführer Fritz im Gespräch: „Wir wollen erfolgreichen Fußball spielen.“ Und darüber hinaus? Es sei noch zu früh, über das klare Ziel zu sprechen, ergänzte er, da der Kader noch nicht final stehen würde. „Was wir als wichtig für uns erachten, ist die Entwicklung junger Spieler. Wir haben sieben Jungs in der Vorbereitung dabei, die in der vergangenen Saison den DFB-Pokal bei der U19 gewonnen haben. Ihnen wollen wir den nötigen Raum geben, sich zu entfalten. Wohl wissend, dass das ein schmaler Grat ist, weil gleichzeitig nach starken und erfahrenen Zugängen gerufen wird und es heißt, aber Werder muss doch mal das, das oder das machen. Wir müssen da eine Balance finden. Daran arbeiten wir, und ich bin optimistisch, dass wir das gemeinsam hinbekommen.“
„Es geht darum, den jungen Spielern Raum zu geben“, sagt Geschäftsführer Fritz
In Bremen, das wird deutlich, haben sie sich auf die Fahne geschrieben, junge und talentierte Spieler zu entwickeln, weil es nichts bringen würde, Spieler über Jahre auszubilden, ihnen dann aber nicht die Chance zu geben, den Sprung in den Männerfußball zu schaffen. „Da müssen wir ihnen helfen. Und ich finde, dass der Erfolg eines Vereins auch daran gemessen werden muss“, sagt Werder-Geschäftsführer Fritz. Bezüglich des Übergangs in den Profibereich hatte Trainerlegende Jürgen Klopp im Juni in einem exklusiven Interview mit WELT AM SONNTAG für die Einführung einer deutschen U21-Liga plädiert.
„Wie gesagt, es geht darum, den jungen Spielern Raum zu geben“, sagt Clemens Fritz: „Und das fängt beispielsweise damit an, dass wir bei uns zwei Innenverteidigertalenten wie Karim Coulibaly und Mick Schmetgens nicht sechs gestandene Innenverteidiger vor die Nase setzen wollen. Das würde keinen Sinn machen, zumal es dabei ja nicht nur darum geht, die Spieler auf die nächste Stufe zu bringen, sondern darum, Werte zu schaffen.“ Den Klub, so Fritz, müsse man als großes Ganzes betrachten – und diesbezüglich sei festzuhalten, „dass wir uns aus uns heraus in eine gute Richtung entwickeln, auch im wirtschaftlichen Bereich, was in der heutigen Zeit immer mehr von Bedeutung ist“.
Seit Januar 2024 hat Werder eine strategische Partnerschaft mit einer Gruppe von Unternehmen und Privatpersonen mit langjährigem Bezug zum Klub. Das Bündnis stellte den Verein im Rahmen einer Kapitalerhöhung damals 38 Millionen Euro zur Verfügung.
Mögen die Rahmenbedingungen stimmen, doch auch in Bremen wissen sie, dass Fußball ein Ergebnissport ist – und es am Ende um die nackten Zahlen geht. Die beste Platzierung seit der Saison 2009/2010, als Werder auf Platz drei landete und sich letztmals für das internationale Geschäft qualifizieren konnte, ist der achte Rang – 2016/2017, 2018/2019 und 2024/2025. Die anderen Platzierungen waren teils weitaus schlechter und dokumentieren sportliche Unzulänglichkeiten, die nach der Spielzeit 2020/2021 im Abstieg in die Zweite Liga gipfelten. Nachdem sich Werder in der Saison zuvor als Tabellen-16. noch in der Relegation retten konnte, mussten die Norddeutschen nach 41 Jahren Erstligazugehörigkeit das Oberhaus verlassen. Im Gegensatz zum großen Nordrivalen Hamburger SV aber benötigte Werder nur ein Jahr für die Rückkehr – der HSV ganze sieben.
Nun aber sind die Hamburger zurück, so dass der Norden nach dem Abstieg von Holstein Kiel in der kommenden Spielzeit erneut drei Erstligaklubs stellt: Den HSV, den FC St. Pauli und Werder, wo sie sich über die Rückkehr des Rivalen aber durchaus freuen. „Diese Derbys sind einfach klasse, das haben wir in der vergangenen Saison im Pokalhalbfinale der Frauen gesehen, als wir im ausverkauften Volkspark beim HSV gewonnen haben. Für Spiele wie diese gehen Menschen ins Stadion. Wir haben wieder Derbys – das ist großartig“, findet Clemens Fritz.
Bis zum ersten Aufeinandertreffen am 13. Spieltag ist es noch etwas hin. Man wolle Spaß machen, lautet die Botschaft von Clemens Fritz an den Anhang. „Aber damit meine ich keinen Spaß frei nach dem Motto: Hey, es ist cool, dass wir dabei sind. Nein, wir wollen mutigen und attraktiven Fußball spielen – und möglichst viele Punkte holen. Die Fans sollen spüren, dass da eine Mannschaft ist, die Freude am Spiel hat, die ein Miteinander verkörpert und bestrebt ist, gemeinschaftlich Erfolg zu haben.“
Und wer weiß, wohin der Weg am Ende führt. In der vergangenen Saison fehlte nur ein Punkt, um mal wieder internationale Spiele zu erleben. Wie einst in Genua.
Lars Gartenschläger ist Fußball-Redakteur. Er berichtet seit 2004 über die Nationalmannschaft, war bei sechs EM- und fünf WM-Turnieren. Zudem schreibt er über DFB- und Bundesliga-Themen.
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