Der furchtlose Mann vom Geisterschiff
Schon bei der Formulierung der Frage musste Erik ten Hag schmunzeln. Ob er die Befürchtung habe, dass seine Arbeit auch in den kommenden Monaten noch so extrem stark mit der seines Vorgängers verglichen werden wird, wollte der Journalist von Bayer Leverkusen neuem Trainer wissen. „Ich bin mir sicher, dass ihr das machen werdet“, sagte der Niederländer und legte damit den Finger auf die Wunde – die Schwierigkeit, es doch endlich zu akzeptieren, dass die erfolgreichste Ära in der mittlerweile 46-jährigen Bundesligageschichte des Werksvereins ein für alle Mal vorbei sei und sich auf etwas Neues einzulassen.
Es wird noch lange dauern, bis das Loblied auf die zweieinhalb Jahre, in denen Xabi Alonso unter dem Bayer-Kreuz wirkte, verklungen sein wird. Die Erinnerungen an den Gewinn des Doubles in der Saison 2023/2024, als die Leverkusener den deutschen Fußball dominierten und die Konkurrenz, vor allem den FC Bayern düpierten, sind noch sehr präsent. Dagegen lässt sich schwer anreden.
„Alles, was passiert ist, ist Geschichte. Und alle, die daran beteiligt waren, sind darauf sehr stolz“, erklärte ten Hag. Er aber blicke ausschließlich nach vorn. „Denn auf dem Wind von gestern kann man heute nicht segeln“, so der 55-Jährige.
Vergleiche aus der Seefahrt sind in Bezug auf ten Hag nicht neu – dass er sie aber selbst bemüht, dagegen schon. Er habe ein „Geisterschiff“ geentert, hatte die englische Zeitung „Guardian“ über ihn geschrieben, als er vor vier Jahren bei Manchester United anheuerte.
Ten Hag startete gut bei United, dann fiel er
Der Klub hatte sich damals hoffnungslos in einem Geflecht aus überzogenen Ansprüchen, genährt durch eine ruhmreiche Vergangenheit, und hektischen wie falschen Personalentscheidungen verheddert. Das könne ja nicht gut gehen, hatten die Kritiker ten Hag gewarnt. Er nahm den Job trotzdem an – und führte die Mannschaft in seiner Debütsaison auf den dritten Rang und gewann in seiner zweiten den FA Cup.
Erst in seiner dritten Spielzeit ereilte ihn das Schicksal, dass ihm viele schon viel früher prophezeit hatten: Nachdem die „Red Devils“ den schlechtesten Saisonstart seit 25 Jahren hingelegt hatten, wurde ten Hag im Oktober 2024 gefeuert. Doch gescheitert war er nicht.
Erik ten Hag traut sich viel zu. Er hat keine Angst. Deshalb haben ihn die Leverkusener geholt. Fernando Carro, der Vorsitzende der Geschäftsführung, und Simon Rolfes, der Sport-Geschäftsführer, hatten reichlich Zeit, sich Gedanken zu machen, wer auf Xabi Alonso folgen sollte. „Uns war es wichtig, dass die Vorstellungen von Fußball zusammenpassen. Wir glauben, dass wir eine neue Geschichte schreiben können“, sagte Rolfes, der bereits während der letzten Monate der vergangenen Saison, als sich Alonsos Abgang abzeichnete, Gespräche führen konnte.
Die auffälligen Parallelen zu Fabregas
Natürlich, es hatte auch andere Überlegungen gegeben – so wie die durchaus charmante Idee, noch einmal auf ein Trainertalent zu setzen. Das hatte doch mit Alonso, der zuvor kaum nennenswerte Erfahrungen als Cheftrainer gesammelt hatte, so gut funktioniert. Lange galt deshalb Cecs Fabregas als Wunschkandidat, dessen Biografie auffällig viele Parallelen zu der von Alonso aufweist: auch ein hochdekorierter ehemaliger Weltklassespieler, der gerade dabei ist, im Trainergeschäft Fuß zu fassen.
Fabregas, 38, ging, nachdem er seine aktive Laufbahn 2022 beendet hatte, zum damaligen italienischen Zweitligaverein Como 1907, wo er zunächst als Jugend-, dann als Co- und schließlich, nach dem Aufstieg in die Serie A 2024, als Cheftrainer fungierte. Doch er soll, so heißt es, Bayer abgesagt haben.
In ten Haag haben die Leverkusener auf jeden Fall ein Mann bekommen, der über zehn Jahre Erfahrung verfügt, der Ajax Amsterdam überraschend ins Halbfinale der Champions League führte – und der seit Manchester auch weiß, wie es sich anfühlt, wenn Erwartungshaltung und Realität auseinanderklaffen. Dass es auch bei Bayer so kommen könnte, ist ja nicht unwahrscheinlich. Die Pflichtspiel-Premiere von ten Haag im DFB-Pokal ist zumindest schon einmal geglückt: Am Freitagabend siegte die Werkself mit 4:0 beim Regionalligisten Sonnenhof Großaspach.
Leverkusens komplette Achse ist weggebrochen
Nicht nur Xabi Alonso ist Geschichte – sondern auch seine Meistermannschaft. Der Aderlass, den Bayer zu verzeichnen hat, ist gewaltig. In Torwart Lukas Hradecky (AS Monaco), Abwehrchef Jonathan Tah (Bayern München), dem Strategen Granit Xhaka (AFC Sunderland) und Spielgestalter Florian Wirtz (FC Liverpool) ist die komplette Achse weggebrochen. Hinzu kamen noch weitere relevante Abgänge von Leistungsträgern – oder werden vielleicht noch kommen. Rechtsverteidiger Jeremie Frimpong zog es ebenfalls nach Liverpool, und Amine Adli wird von mehreren Klubs umworben. „Ja, es ist ein Umbruch“, sagte ten Hag, was fast schon eine Untertreibung ist: Es ist vielleicht sogar der radikalste Umbruch, den je ein Bundesligaklub durchgemacht hat.
„Wir müssen eine neue Mannschaft bauen, die Philosophie und die Kultur in diesem Verein ist sehr gut“, erklärte ten Hag, der tatsächlich schon einige, darunter auch vielversprechende neue Spieler bekommen hat. Gut die Hälfte der etwa 210 Millionen Euro, die Bayer an Ablösen eingenommen hat, wurden reinvestiert – in bislang zehn Profis.
In Mark Flekken und Janis Blaswich kamen zwei neue Torhüter. Jarell Quansah, der aus Liverpool geholt wurde, soll die Lücke schließen, die Tahs Wechsel in der Innenverteidigung hinterlassen hat. In Malick Tillmann, mit 35 Millionen Euro Ablöse bislang teuerster Einkauf, kam ein offensiver Mittelfeldspieler sowie in Ibrahim Maza das größte Talent der vergangenen Zweitligasaison von Hertha BSC. Doch es muss, daran lässt ten Hag keinen Zweifel aufkommen, noch mehr passieren.
Die Herausforderung für den neuen Trainer könnte kaum größer sein. „Niemand ist ein Harry Potter“, sagte er. Nur ein Zauberer könne „schnell ein Team bauen und gleichzeitig schon erfolgreich sein – doch so funktioniert Topfußball leider nicht“. Er benötige Zeit, um etwas Neues entstehen lassen zu können. Allerdings müsse er auch improvisieren, da weitere Zugänge vorerst noch auf sich warten lassen. Die Mannschaft werde, wenn sie am Samstag kommender Woche mit dem Heimspiel gegen die TSG 1899 Hoffenheim (15.30 Uhr, Sky) in die neue Bundesligasaison starten wird, noch lange nicht fertig sein.
Andrich ist der neue Kapitän
Trotzdem, so ten Hag, könne er sich immer noch auf eine Reihe von Persönlichkeiten im Kader verlassen. Da ist Robert Andrich, der bislang in Bezug auf die Bedeutung für die Mannschaft im Schatten von Xhaka stand, den der neue Coach am Freitag zum Kapitän beförderte. Die Wahl sei die Folge eines „ganz natürlichen Prozesses gewesen“, so ten Hag.
Andrichs Berufung hat auch eine symbolische Bedeutung: Sie soll dafür stehen, dass es für Leverkusen auch ein Leben nach Xabi Alonso geben wird. Denn wenn der Erfolgstrainer, mit dem Andrich nicht immer harmoniert hatte, nicht gegangen wäre, dann wäre der deutsche Nationalspieler wohl selbst gegangen, da er unter Alonso für sich kaum noch Perspektiven sah. „Wir haben mehrere Leader, aber Robert Andrich ist vorangegangen. Er verbindet die Leute – und Kapitän zu sein bedeutet nicht nur, die Binde zu tragen“, sagte ten Hag.
Es wird allerdings wichtig sein, dass sich in den kommenden Wochen und Monaten noch mehr Führungsspieler herauskristallisieren – wie beispielsweise ein Patrick Schick oder ein Edmond Tapsoba. Denn die Mannschaft benötigt eine komplett neue Hierarchie.
Vor allem aber darf das Team keine Angst haben, mit der Mannschaft aus den vergangenen Jahren verglichen zu werden. Das aber ist gar nicht so einfach – selbst für die Spieler nicht, die unter Xabi Alonso nicht immer den besten Stand hatten. „Die wichtigsten Spieler sind weg, das tut natürlich weh“, sagte Schick – und dass er hoffe, „dass wir noch ein paar gute Spieler holen“. Aktuell, so der Stürmer, „sind wir nicht in der Position, in der wir um den Titel kämpfen können“. Und zumindest besteht die Möglichkeit, dass sich daran auch so schnell nichts ändern wird.
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