Der letzte Superstar der Bundesliga hat sich neu erfunden
Der Chef denkt in diesen Tagen an seine schlaflosen Nächte damals. Im Sommer 2023 kämpfte Jan-Christian Dreesen als Vorstandsvorsitzender mit dem damals gebildeten „Ausschuss Sport“ des FC Bayern um Harry Kane. Der heutige Aufsichtsrat Karl-Heinz Rummenigge telefonierte viel mit dem Stürmerstar, der in der Karibik urlaubte. Dreesen verhandelte mit Daniel Levy, dem Chef von Tottenham Hotspur. Es ging um den größten Transfer der Klubgeschichte. Ein Nervenspiel.
Nach wochenlangem Poker klappte es. Für rund hundert Millionen Euro wechselte Kane zu den Münchnern. Fans kamen nachts zur Klubzentrale an der Säbener Straße und sangen für Kane, der seinen Vertrag unterschrieb, den Fans winkte und sich bedankte. Einen solchen Hype hatte es selbst beim FC Bayern, auch „FC Hollywood“ genannt, noch nie gegeben.
Am vergangenen Freitag saß Dreesen auf der Tribüne im Münchner Stadion und sah, wie Kane beim 4:0 gegen Werder Bremen zwei Tore schoss. Wieder mal. Danach ging Dreesen in die Kabine. „Harry machte einen sehr fröhlichen Eindruck“, berichtete der 58-Jährige auf dem Weg aus dem Stadion: „Ich habe nicht das Gefühl, dass er über andere Dinge als den FC Bayern nachdenkt.“ Dreesen hat in diesen Wochen gute Gründe, sehr gut schlafen zu können.
Harry Kane ist der letzte Superstar der Bundesliga. Ein Stürmer, der im Trikot der Bayern von Beginn an lieferte und in nahezu jedem Spiel traf und dennoch in seiner dritten Saison beim Rekordmeister ein anderer Spieler geworden ist. Ein noch kompletterer, der in Abwesenheit des verletzten Jamal Musialas auch Spielgestalter statt überwiegend Vollstrecker ist. Dessen Bedeutung für seine Mannschaft noch mal gestiegen ist.
Kane gehört in Europa zu den besten Angreifern. Er sorgt mit seiner aktuellen Entwicklung dafür, dass man in Tottenham den Wunsch einer Rückkehr äußert. Und in England und Deutschland über eine Ausstiegsklausel gesprochen wird, die Kane vor Ende seines bis Sommer 2027 gültigen Vertrages einen Wechsel für rund 65 Millionen Euro Ablöse ermöglichen könnte.
14 Scorerpunkte nach fünf Spielen in der Bundesliga
Sich tief fallen lassen, den Ball holen, Vorlagen geben, besondere Pässe spielen, sehr viel laufen – das hat Kane von Beginn an in München gemacht. Und doch hat sich sein Spiel entwickelt. Nach vier Spieltagen in der Bundesliga kam er bereits auf elf Scorerpunkte, acht davon Tore. Seit Beginn der Datenerfassung vor 21 Jahren gab es das noch nie. Jetzt, nach fünf Partien, sind es sogar schon 14 (zehn Tore und vier Vorlagen).
Cristiano Ronaldo und Erling Haaland benötigten jeweils 105 Einsätze, um hundert Tore für Real Madrid beziehungsweise Manchester City zu erzielen. Kane schaffte es für die Bayern in 104 Partien. In der Champions League kommt er nach einem Spiel auf ein Tor und eine Vorlage. Dienstag (21.00 Uhr, Amazon) tritt er in der zweiten Partie der Vorrunde bei Paphos FC auf Zypern an.
WELT fragte Trainer Vincent Kompany, wie er Kanes Entwicklung sieht. Der Trainer spielte selbst in der Premier League für Manchester City – als Verteidiger auch gegen Kane. „Das sind zwei unterschiedliche Spieler – wie ich ihn damals eingeschätzt habe und ihn heute erlebe“, antwortete Kompany: „Harry hat eine Entscheidung getroffen, sein Spiel weiter zu öffnen. Das erlaubt es ihm, sich manchmal der Aufmerksamkeit der Verteidiger zu entziehen und dann doch zu treffen. Ich habe ihn gern in einer Position, wo er Tore machen kann, aber momentan klappt das sehr gut.“
Vincent Kompany: „Er hat einen riesigen Stellenwert“
Kane entzieht sich immer wieder seinen Gegenspielern und reißt Löcher in die Defensive des Gegners. Zudem verhält er sich im Strafraum enorm clever, holte beim 3:1 gegen den FC Chelsea in der Champions League und gegen Bremen Elfmeter heraus. Am Tag vor einem Spiel trainiert Kane immer Strafstöße.
Viele sagen, Kane sei derzeit der weltweit beste Stürmer. Er führt diese Bayern-Mannschaft. „Was Harry aktuell zeigt, spiegelt wider, wie er sich fühlt. Er bricht Rekord um Rekord – und gleichzeitig arbeitet er so viel nach hinten“, so Kompany: „Das macht ihn aus. Wer so viele Tore schießt und gleichzeitig so viel für die Mannschaft arbeitet, hat einen riesigen Stellenwert.“
„Er macht in seinem Alter noch mal riesige Entwicklungen auf dem Platz“, sagt Sportvorstand Max Eberl über den 32-jährigen: „Wir kannten ihn aus Tottenham alle vom Toreschießen. Aber wie er jetzt gerade Fußball spielt in dieser Mannschaft, als Führungsspieler auf dem Platz vorweggeht, sich aufopfert, zeigt: Der will einfach Titel gewinnen, das ist sein Hunger. Das kann er mit uns, das wollen wir mit ihm zusammen.“
Es ist tatsächlich kaum zu glauben, dass Kane in seiner Karriere erst einen Titel gewonnen hat (Supercup nicht mitgezählt): die deutsche Meisterschaft in der vergangenen Spielzeit. Dabei ist Kane seit 15 Jahren Profi.
Bis zu 24 Millionen Euro Jahresgehalt
Es ist nicht nur die enorme Anzahl seiner Tore, die so wichtig ist für die Bayern, sondern auch der Bedeutung. 27 Mal erzielte er in seiner bisherigen Zeit das 1:0. Beim 5:0 gegen den Hamburger SV neulich eroberte er den Ball am eigenen Strafraum, leitete dann wie ein zentraler Mittelfeldspieler den Angriff seiner Mannschaft ein und erzielte am Ende als Stürmer den Treffer zum 5:0 – alles binnen Sekunden. „Unglaublich! Ich bin am Schwärmen“, schwärmte Stefan Effenberg, einst Kapitän des FC Bayern, bei „Sport1“.
Kane galt im Sommer 2023, als Dreesen schlaflose Nächte hatte, als teuerster 30-Jähriger der Welt. Inzwischen zeigt sich, dass die hundert Millionen extrem gut angelegt sind. Newcastle United zahlte gerade 90 Millionen Euro für Nick Woltemade.
Von heute aus betrachtet war Kane – zugespitzt formuliert – beinahe ein Schnäppchen. Wenngleich er mit Boni auf geschätzte 24 Millionen Euro Jahresgehalt kommen soll. Bis zu etwa 200 Millionen Euro haben die Bayern bis 2027 also für Kane gezahlt. Eine immense Summe. Doch in Relation gesehen mehr als akzeptabel, das zeigte die gerade beendete Transferperiode mit immer neuen Rekorden in diesem längst entrückten Milliarden-Geschäft. Die Zweifler, die Kane für überbezahlt und zu alt hielten, sind recht leise geworden. „Manchmal habe ich gute Lust, die Anmerkungen aus dem Jahr 2023 rauszuholen“, sagte Dreesen nach dem 4:0 gegen Bremen.
So mag es auch manchem Mitspieler gehen. „Das sind wirklich nicht nur die Tore“, beschreibt Joshua Kimmich, „sondern auch, wie er der Mannschaft hilft, sowohl mit Ball als auch gegen den Ball. Das ist schon außergewöhnlich.“
Auch mit Zugang Luis Díaz vom FC Liverpool harmoniert Kane immer mehr. Díaz sagt: „Aus der Zeit, in der ich bei Liverpool gespielt habe und er noch bei Tottenham war, wusste ich, dass er viele Tore schießt. Aber als ich die ersten Male mit ihm trainiert habe, dachte ich: ‚Dieser Typ ist brutal!‘ Er macht einfach alles, schießt Tore, gestaltet das Spiel und verteidigt sogar. Er hat mich total überrascht.“
Kane ist nicht nur sportlich ein extremer Gewinn für die Bayern. Nach dem Abgang von Thomas Müller ist er eines der Gesichter des Klubs und stellt sich auch außerhalb des Rasens seinen Aufgaben, gibt nun mehr Interviews und ist Werbefigur des Vereins.
Keine Skandale, keine Allüren. Immer pünktlich, immer höflich. Kane ist auch wegen seiner bescheidenen und ruhigen Art beliebt. Nach dem Spiel trifft er bereits in der Loge oder am Stadionausgang seine Frau Katie und die gemeinsamen Kinder Ivy, Vivienne, Louis und Henry. Mit ihnen verbringt er seine Freizeit, insbesondere für Louis sammelt Kane Bälle und Trikots aus den Spielen, in denen er trifft. „Er freut sich jedes Mal sehr“, so Kane.
Auch seine Eltern Patrick und Kim sind immer mal wieder in der Arena. Der Vater filmte seinen Sohn zu Beginn seiner Zeit in München stolz, kam mit seiner Frau zur Vorstellung Kanes – obwohl sein Sohn ja bereits längst ein Weltstar war. Kanes Bruder Charly ist sein Hauptberater, Harry Kanes Karriere ist ein Familien-Business.
Kein Wunder, dass Kane in München bleiben will. „Mir geht es gut. Dem Verein geht es gut. Ich denke, sie sind zufrieden mit mir, und ich bin zufrieden mit ihnen“, sagte er. Eine Vertragsverlängerung scheint möglich. „Solche Gespräche könnten stattfinden“, so Kane.
Rekord von Alan Shearer verliert an Reiz
Heimweh verspürt Kane nicht. Und auch der Reiz, den Rekord von Alan Shearer zu toppen, hat etwas nachgelassen. Der einstige Stürmer beendete seine Karriere 2006 mit 260 Treffern in der Premier League beendet, Kane kommt auf 213 Toren.
„Als ich herkam, habe ich wahrscheinlich über den Rekord nachgedacht“, sagte Kane jüngst: „Seit ich hier bin, macht es mir so viel Spaß. Allein schon, dass ich auf diesem Niveau spiele, an großen Abenden dabei bin, einer der Favoriten für die Champions League bin. Ich will nicht nur auf individuelle Dinge schauen, sondern mich weiter pushen und sehen, wie weit wir kommen.“
Ein weiteres Argument für ihn – er ist nahezu nie verletzt. Kane ist auch in Sachen Robustheit, Regenration und Kräfteeinteilung ein Vollprofi, von dem junge Spieler wie Lennart Karl und Tom Bischof lernen. „Er ist unglaublich“, sagte Bischof neulich.
Harry Kane ist der letzte Superstar einer Bundesliga, die gegen ihren Ruf als Ausbildungsliga kämpft und die zuletzt viele große Namen verlor. In Sachen Strahlkraft, Vermarktung und Social Media ist Kane immens wichtig. Auf Instagram folgen ihm rund 18 Millionen Menschen, auch seinetwegen interessieren sich Fans aus Großbritannien für die Liga.
Mit 32 Jahren ist Kane die Gegenwart des FC Bayern. Die langfristige Zukunft muss im Sturm ein anderer sein. Diese Herausforderung für den Weltklub hat bereits begonnen, die sportliche Führung sondiert den Markt. Doch Kane dürfte noch länger extrem wichtig sein.
Zur Krönung seiner Karriere, zum Sprung zur Legende des FC Bayern fehlt Harry Kane nur eines. Aber etwas ganz Wichtiges: Titel.
Schlaflose Nächte bereitet er bei den Münchner längst keinem mehr.
Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Freitagabend war er beim Spiel des FC Bayern gegen Werder Bremen im Münchner Stadion auf der Pressetribüne, Dienstag wird er beim Spiel der Bayern in der Champions League auf Zypern sein.
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