Der Abstieg des MSV Duisburg stand bereits seit einer Woche fest, doch dieses letzte Heimspiel musste noch ertragen werden. Es sollte zu einem bitteren Tag werden. Aus dem Fanblock stieg dichter Qualm empor. Rauchbomben flogen in den Innenraum, vermummte Gestalten stürmten auf das Spielfeld. Die Polizei rückte an, Tränengas wurde eingesetzt. Über eine Stunde war die Partie gegen Erzgebirge Aue an diesem 12. Mai 2024 unterbrochen.

Michael Preetz, damals gerade seit knapp vier Monaten alleiniger Geschäftsführer des Traditionsklubs, saß auf der Tribüne. Der frühere Mittelstürmer hatte sich zwar auf den Gang in die 4. Liga vorbereiten können, doch als er mitansehen musste, dass es noch nicht einmal gelang, sich mit Würde von der Bühne des Profifußballs zu verabschieden, ging ihm das nahe. „Das war der Tiefpunkt schlechthin. An diesem Tag hat sich der ganze Frust, die ganze Enttäuschung, die ganze Wut entladen – über all das, was sich über Jahre hinweg abgezeichnet hatte“, sagt Preetz.

Ein Teil der Fans war voller Bitterkeit. Die anderen, die den Ausbruch des Zorns miterleben mussten, voller Angst: Wie soll es unter diesen Umständen überhaupt weitergehen? Ein Abstieg ist immer eine Zäsur, doch ein Sturz in die Regionalliga ist existenziell. Dann geht es um Arbeitsplätze, um die grundsätzliche Perspektive. Beispiele von Traditionsvereinen, die sich von einem solchen Absturz lange oder überhaupt nicht erholt haben, gibt es genug.

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19 Monate später bitten Preetz und Chris Schmoldt, der Leiter für Kaderplanung und Strategie, zum Gespräch über ihren MSV und über das, was sich seitdem getan hat. Sie wollen darlegen, wie es gelungen ist, den Klub wieder auf die Beine zu stellen. Denn der Vizemeister der allerersten Bundesligasaison hat es nach nur einem Jahr in der Regionalliga West wieder zurückgeschafft. Das gelang noch keinem Verein. Aktuell spielen die Duisburger sogar mit um den Aufstieg in die 2. Liga. Dort war der MSV zuletzt vor sechseinhalb Jahren.

Jeder längere Aufenthalt in Liga 4 wäre für MSV Duisburg fatal gewesen

Doch darüber wollen Preetz und Schmoldt nicht reden. „Für uns ging es damals darum, die unmittelbare Zukunft zu sichern, den Apparat irgendwie am Laufen zu halten“, erklärt Preetz. Er hatte vor Mitarbeitern sprechen müssen, die sich um ihre Jobs sorgten und mit Sponsoren, die auf dem Absprung waren. „Vor allem aber mussten wir nach dieser tiefen Depression zunächst bei uns selbst anfangen. Wenn alles kaputtgegangen ist, musst du dich erst mal fangen. Erst dann kannst du deine Zuversicht wieder auf andere Leute übertragen“, so Preetz.

Es sei eine Art Selbsttherapie gewesen, sich in die Arbeit zu stürzen. Eine komplett neue Mannschaft musste gebaut werden. Die alte hatte sich nach dem Abstieg quasi pulverisiert, alle Spielerverträge hatten ihre Gültigkeit verloren. Für Preetz und Schmoldt war klar: Sie mussten einen Kader zusammenstellen, mit dem möglichst schnell der Wiederaufstieg geschafft werden kann – in spätestens zwei Jahren. Jeder längere Aufenthalt in Liga 4 hätte dazu geführt, dass die auf Profifußball ausgerichtete Infrastruktur – das moderne Stadion mit 31.418 Plätzen, das Trainingsgelände, das Nachwuchsleistungszentrum kaum noch hätte finanziert werden können.

Das Problem war: In den vergangenen Jahren waren nur erfahrene Mannschaften mit entsprechend hohem Altersschnitt aufgestiegen. „Das wollten wir nicht. Wir wollten einen dynamischen Kader mit jungen Spielern, die richtig ackern und intensiv Fußball spielen können. Die mit uns den Berg hinauflaufen“, sagt Schmoldt. Eine Perspektive musste entwickelt, eine Aufbruchstimmung erzeugt werden. Zuvor hatte es weder das eine noch das andere gegeben.

Die Vereinsführung hatte es seit dem Abstieg aus der 2. Liga 2019 nie geschafft, eine Strategie zu entwickeln. Den oft wechselnden Trainern war es nicht gelungen, einen Spirit zu erzeugen. Irgendwann machten die Spieler nur noch Dienst nach Vorschrift. „Du konntest einigen Spielern die Lustlosigkeit direkt ansehen. Und niemand im Verein hat den Finger gehoben und gesagt: ,Merkt ihr denn nicht, was hier passiert?‘“, sagte Bernard Dietz, die MSV-Ikone schlechthin. Die Jahre vor dem Abstieg, so der 77-Jährige, seien eine Qual gewesen.

Als Trainer wurde Dietmar Hirsch ausgewählt, der 167 Spiele für den MSV absolviert hat. 24 neue Spieler wurden geholt – und die Fans neugierig. 5500 Dauerkarten konnten verkauft werden, 800 mehr als in der Drittligasaison zuvor. Zum ersten Regionalligaspiel pilgerten 6500 MSV-Fans nach Gütersloh. Zur Heimpremiere gegen Türkspor Dortmund kamen 18.000. Die Spieler, die noch nie vor solcher Kulisse gespielt hatten, waren euphorisiert. Sie gewannen mit fortwährender Saisondauer an Selbstvertrauen. Die Spiele wurden zu Events, der Zuspruch und die Unterstützung schweißte die Mannschaft zusammen. Im Mai stieg die große Aufstiegsparty auf dem Burgplatz, viele träumten schon vom Durchmarsch in die 2. Liga.

„Für den MSV war es immer eine Strafe, in dieser Liga zu spielen“, sagt Preetz

Bei dieser Zielsetzung geht Preetz mit. Zeitlich will er sich aber nicht festlegen. Mit dem bisherigen Saisonverlauf in der 3. Liga ist er überaus zufrieden – auch wenn es am vergangenen Wochenende im Spitzenspiel bei Energie Cottbus, zu dem die „Zebras“ als Tabellenführer angereist waren, ein 2:3 gab. Dennoch: Die Chance ist da – vorausgesetzt, „wir schaffen es, Woche für Woche am Limit zu spielen.“ Dann, so Preetz, „können wir auch etwas erreichen“.

Denn obwohl die Aufstiegseuphorie und der Boom mit durchschnittlich über 23.000 Zuschauern anhält: Die 3. Liga könnte auf Sicht eine Herausforderung werden. Dort zu spielen ist deutlich teurer als in der Regionalliga, die TV-Vermarktung durch den DFB ist trotz großer Namen wie 1860 München, Rot-Weiß Essen, Hansa Rostock und Duisburg eher schlecht als recht. Außerdem ist die unterste deutsche Profiliga in Duisburg traditionell unbeliebt. „Für den MSV war es immer eine Strafe, in dieser Liga zu spielen“, sagt Preetz.

Um dort nicht allzu lang bleiben zu müssen, sollen „die Rahmenbedingungen so verbessert werden, dass mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen“, so Preetz. Derzeit wendet der MSV etwa sechs Millionen Euro für die Mannschaft auf, deutlich weniger als die meisten Mitbewerber um die Aufstiegsplätze. Sukzessive soll der Aufwand erhöht werden. Um das Fundament zu stärken, geht der MSV im Marketing in die Offensive. Waren es vor allem die langjährigen regionalen Partner, die das Überleben gesichert haben, sollen zukünftig auch größere, bundesweit agierende Unternehmen gewonnen werden.

Vor einigen Monaten wurde eine Studie veröffentlicht, die der Klub in Auftrag gegeben hatte. Die Botschaft: Es gibt für die Stadt Duisburg mit ihren 500.000 Einwohner keinen besseren Imageträger und kaum einen effektiveren Wachstumsförderer als den MSV. Selbst in der Regionalligasaison sorgten der Verein und seine Fans bei lokalen Unternehmen für 7,3 Millionen Euro Umsatz. Sollte es der MSV wieder in 2. Liga schaffen, wäre ein Wirtschaftsfaktor von mehr als 100 Millionen Euro drin. „Der MSV gehört mittelfristig in die zweite Liga“, sagt Preetz. Das mag für den einen oder anderen unspektakulär klingen. Doch gerade der Realismus, der mitschwingt, ist neu. Er hilft, um Vertrauen zurückzugewinnen.

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