Wer den ganzen Wahnsinn der diesjährigen Darts-WM ablesen will, muss nur auf das zweite Achtel des Turnierbaums schauen. Luke Woodhouse ist dort noch vertreten, immerhin die Nummer 25 der Welt. Dazu mit Andrew Gilding (Nummer 34) und Krzystof Ratajski (Nummer 37) zwei Mittelklasse-Spieler. Und der Gabelstaplerfahrer und krasse Außenseiter Wesley Plaisier (Nummer 92). Einer von ihnen wird auch im neuen Jahr noch im Turnier sein und das Viertelfinale bestreiten. Dort wartet, wenn alles normal läuft, dann das Duell mit Weltmeister Luke Littler. Wenn.

Denn was läuft bei diesem Turnier schon normal? Alle Experten hatten für den Neujahrstag den großen Showdown zwischen Protz und Prinz vorhergesagt – Gerwyn Price gegen Luke Littler. Der Waliser wurde zum WM-Start als einer der wenigen gehandelt, die den Weltranglistenersten auf dem Weg zur Titelverteidigung stoppen könnten. Nun ist Price raus, mit 0:3 gedemütigt von Plaisier. Es war der wohl heftigste Einschlag auf dem Favoriten-Friedhof. 17 von 32 gesetzten Spielern hat es in den ersten beiden Runden erwischt, mehr waren es zu diesem Zeitpunkt in der WM-Geschichte noch nie.

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Das beispiellose Favoritensterben geht auf zwei Entwicklungen zurück. Zum einen zeigt es einmal mehr, wie eng die Dartswelt in den letzten Jahren zusammengerückt ist. Zwar marschieren die beiden Lukes, Littler und Humphries, meist unerreicht vorneweg. Dahinter aber kann jeder aus den Top 100 an einem guten Tag jeden schlagen, es gibt kaum noch Paarungen, bei denen der Sieger auf den ersten Blick feststeht.

Wenn Curacao doch nur so spielt wie David Munyua

Zum anderen ist der Professional Darts Corporation (PDC) zum genau richtigen Zeitpunkt ein Glücksgriff gelungen. Die Erweiterung von 96 auf 128 Teilnehmer entpuppt sich schon jetzt als goldrichtige Entscheidung. Wer ein Turnier aus niederen Motiven (Geld) aufpumpt, wird grundsätzlich erstmal kritisch beäugt. Die Fifa mit ihren Erweiterungen der Klub-WM und WM ist im Fußball das beste Beispiel. Auch der PDC ging es um mehr TV-Sendezeit und mehr Fans in der Halle – und damit letztlich mehr Kohle.

Die übliche Angst, dass mit der Expansion das sportliche Niveau verwässert, ist im Darts aber völlig unbegründet, wie die erste und zweite Runde vor Weihnachten gezeigt hat. Wenn Curacao bei der Fußball-WM im kommenden Jahr doch nur ansatzweise so spielt wie David Munyua Darts …

Gerade die internationalen Qualifikanten, die zwölf zusätzliche Startplätze bekommen und damit deutlich von der Erweiterung profitiert haben, haben voll zurückgezahlt. Da ist Nitin Kumar, der als erster indischer Spieler ein WM-Spiel gewann. Oder eben Munyua, der nach seinem Triumph über die Nummer 18 der Welt Mike de Decker selbst den kenianischen Präsidenten zu seinen Gratulanten zählen durfte. Der Japaner Motomu Sakai hat nicht nur mit seinen Tänzen den Alexandra Palace verzaubert. Und mit seinem Landsmann Mitsuhiko Tatsunami hatte selbst Superstar Michael van Gerwen in der ersten Runde Probleme.

All diese Spieler sind längst nicht mehr nur für den globalen Anstrich einer sportlich von Europa dominierten Veranstaltung da. Sie bieten mittlerweile sportlichen Mehrwert. Vor zehn Jahren war das undenkbar. Bei der WM 2016 war der Chinese Sun Qiang noch mit einem knappen 65er-Average ausgeschieden, der Thailänder Thanawat Gaweenuntawong mit einem aufgerundeten 64er-Schnitt. Von diesen besseren Hobbyspieler-Statistiken ist diese WM meilenweit entfernt. Sie markiert zweifelsohne das Ende der sportlichen Darts-Exoten. Darts ist global auf einem brauchbaren Niveau angekommen. Es gibt keine Kleinen mehr.

Drei-Millionen-Investment der PDC

Die PDC hat auch hieran entscheidenden Anteil. Sie hat die nötige Infrastruktur geschaffen. Mittlerweile gibt es auf jedem Erdteil eine eigene Turnierserie, bei denen es sich für die regionale Elite preisgeldtechnisch lohnt, aufzutauchen. Allein in den nächsten drei Jahren investiert die PDC über drei Millionen Pfund an Preisgeldern in ihre „globale Partnertouren“. Schon jetzt steht fest, dass Afrika im kommenden Jahr einen zweiten festen WM-Startplatz bekommt. Die Entwicklung hat seinen Höhepunkt längst noch nicht erreicht.

Und noch etwas fasziniert an der ersten 128er-WM: Sie liefert in einer beispiellosen Frequenz Geschichten. Nicht nur, weil sich die Favoriten schon vor Weihnachten einmal mehr als sonst präsentieren mussten und damit doppelte Stolpergefahr bestand. Es bot sich noch mehr Platz für Tränen (Stephen Bunting), Boxer-Einlagen (Cameron Menzies) oder sportliches Drama (Danny Noppert und Justin Hood). Dazu die schon genannten Außenseiter-Märchen. Darts liefert wie kaum eine andere Sportart Emotionen am Fließband. Und die deutschen Starter seien da noch gar nicht erwähnt.

Waren die Weihnachtsfeiertage sonst eine lästige Zwangspause, bevor die WM so richtig startete, kamen sie diesmal genau richtig, um sich von all dem Wahnsinn kurz zu erholen. Nun kann es wieder losgehen.

Luca Wiecek ist Sportredakteur für WELT. Er berichtet bis Silvester aus dem Alexandra Palace in London.

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