Die Füchse Berlin stehen vor aufregenden, vereinshistorischen Spielen: Vier Siege brächten sicher die erste deutsche Meisterschaft, nur eine Niederlage würde die Hauptstädter ins Tal der Tränen stoßen. Schon am Abend steht alles auf dem Spiel - auch die Champions League.

Noch kann der große Traum platzen. Noch kann alles in einer Katastrophe enden. Noch können statt Champagnerströmen bittere Tränen fließen rund um die Max-Schmeling-Halle, den "Fuchsbau" der Füchse Berlin. Das Team hat dieser Tage die Hand an gleich zwei großen Trophäen. Und könnte am Ende doch noch leer ausgehen.

Am Abend (20 Uhr/Dyn und im Liveticker auf ntv.de) empfangen die Berliner die MT Melsungen zum Showdown in der Handball-Bundesliga. Der Tabellenführer spielt gegen den punktgleichen Zweiten. Es ist ein vorläufiger Höhe-, wenngleich nicht der Endpunkt einer gnadenlosen Hatz in Richtung Titel. Die Jagd ist "das Brutalste, was die Liga in den letzten Jahren gesehen hat", sagte Bob Hanning, Architekt der Füchse-Erfolgsgeschichte, die scheinbar unaufhaltsam ihrem großen Finale entgegenstrebt - und doch noch tragisch enden kann.

Seit Wochen hetzen sich die Spitzenteams gegenseitig erbarmungslos von Erfolg zu Erfolg durch den eng getakteten Kalender. Den SC Magdeburg immer im Nacken, der nur einen Punkt hinter dem Spitzenduo lauert. Eine Niederlage im Spitzenduell würde wohl nicht nur das Ende der Titelträume bedeuten, sondern auch den Absturz auf Platz drei, raus aus den Champions-League-Rängen. Es wäre keine Enttäuschung, es wäre eine Katastrophe. Denn die Europa League, der zweitwichtigste Europapokal im Handball, ist selbst beim Titelgewinn nur ein Nullsummenspiel. Um richtig viel Geld geht es nur in der Champions League. Eine Mannschaft - die Füchse, Melsungen oder Titelverteidiger SC Magdeburg - wird es erwischen. Der Sturz vom Champions-League-Platz in die European League ist im Handball vor allem finanziell enorm schmerzhaft.

"Irgendwann vor 400 Zuschauern gestanden"

Aber ans Scheitern denken sie nicht in Berlin, Hannings Mantra ist "Zweifler siegen nicht, Sieger zweifeln nicht". Der Macher, dem Selbstzweifel tatsächlich völlig fremd sind, steht ganz knapp vor der Erfüllung seines "Lebenstraums". Die erste Meisterschaft für den Klub ist möglich, Visionär Hanning wäre nach 20 Jahren am Ziel. "Wir haben hier irgendwann mal vor 400 Zuschauern gestanden", stammelte der Manager der Füchse Berlin einst in die Mikrofone, während Berlin um ihn herum tobte. Seine Mannschaft hatte gerade den damaligen spanischen Topklub Ademar Leon in der Champions League mit 29:18 geschlagen und damit eine der größten Comebacks der Handballgeschichte produziert. Das Hinspiel in Spanien hatten sie mit elf Toren verloren, eine Woche später brannten Silvio Heinevetter, Iker Romero und Co. vor 9000 Menschen ein Feuerwerk ab, das die Max-Schmeling-Halle anzündete. Das war im April 2012.

Das Feuer, das in diesen Stunden im Viertelfinale der Champions League entzündet wurde, brannte in den Jahren danach nicht immer so heiß, aber es leuchtet noch immer hell in der Geschichte des Klubs, den Hanning einst 2005 übernahm. Auf der Geschäftsstelle des damaligen Zweitligisten fand Hanning lediglich einen alten Schuhkarton mit unbezahlten Rechnungen vor, wie er gerne erzählt. Für Handball der gehobenen Klasse interessierte sich niemand mehr. Es war dunkel in Berlin. Hanning, der zuvor vor allem als Trainer gearbeitet hatte, hatte nichts, heute greift er mit seinen Füchsen nach der ersten Meisterschaft.

Dass der große Wurf nach dritten Plätzen und der Vize-Meisterschaft im Vorjahr so nahe ist, hängt auch mit einem im Team zusammen, bei dem die gesammelte Konkurrenz nur mit dem Kopf schütteln und ihre Bewunderung ausdrücken kann: Mathias Gidsel. Zum zweiten Mal hintereinander Welthandballer, Ausnahmekönner, eine Sensation. Und für viele Experten dem Rest der Welt meilenweit enteilt. "Vielleicht muss ich da für mich akzeptieren: Da werde ich nie hinkommen", sagt Deutschlands Spielmacher Juri Knorr, selbst ein Hochbegabter. Am letzten Spieltag kommt es zum direkten Duell zwischen Knorrs Rhein-Neckar Löwen und Gidsels Füchsen.

Lichtlein macht Superstars besser

Dass Gidsel im Jahr 2022 aus der Heimat Dänemark zu den Füchsen wechselte, hatte viel mit der Menschenkenntnis von Hanning und Sportdirektor Stefan Kretzschmar zu tun. Die beiden erkannten, dass es dem jungen Mann, der bei Vertragsabschluss gerade zum ersten Mal Weltmeister geworden war und den finalen Schritt in die absolute Ausnahmeklasse ging, nicht um jeden Euro feilscht, sondern das Persönliche wichtig ist. Die Person Mathias, nicht ausschließlich der Spieler Gidsel. Der interessiert daran ist, sich selbst und ein Team weiterzuentwickeln, sich dabei den Spaß zu bewahren, wegen dem er als kleiner, schmächtiger Junge, den alle "Mini" nannten, jeden Tag mit dem Ball verbracht hat. Auch die Stadt Berlin half dabei kräftig mit. Die Anonymität in der Großstadt, entfernt von der Heimat, in der er überall erkannt wird.

Im Prenzlauer Berg fühlen sich Gidsel und seine Freundin Katrine pudelwohl. Der 26-Jährige hat seinen Vertrag kurz nach dem dritten WM-Titel mit Dänemark, bei dem er natürlich wieder Torschützenkönig und MVP wurde, vorzeitig bis 2029 verlängert und allen Gerüchten den Riegel vorgeschoben. Hannings Traum ist längst auch seiner.

Die Füchse Berlin sind aber nicht nur Superstar Gidsel. Im Gegenteil. Von den Topteams der Liga hat der Kader namentlich die geringste Breite, auch wenn der Kader natürlich mit einigen Nationalspielern bestückt ist. Ja, mit Gidsel im Rückraum spielt sein Nationalmannschaftskollege Lasse Andersson, ebenfalls hochdekoriert. Aber da spielt auch Nils Lichtlein und beliefert die beiden zuverlässig mit harten, präzisen Pässen und bringt die Superstars so in aussichtsreiche Positionen. Lichtlein ist gerade einmal 22 Jahre alt - und einer von sieben U21-Weltmeistern, die es inzwischen in die deutsche Nationalmannschaft geschafft haben. Der Spielmacher, so ordnete Hanning den Stellenwert Lichtleins gegenüber ntv.de ein, dirigiert die dänischen Olympiasieger Gidsel und Andersson nicht nur, "sondern macht sie besser".

Einzigartige Struktur

Lichtlein steht wie zuvor Drux und dessen bester Freund Fabian Wiede für den Weg, den die Füchse konsequent gehen. Nämlich den, auf die eigene Jugend zu bauen. Lichtlein und Matthes Langhoff, der sich jüngst ebenfalls ins Aufgebot von Bundestrainer Alfred Gislason gespielt hat, waren im Dezember 2017 die Protagonisten einer Sky-Dokumentation über die Talentschmiede der Füchse. Die beiden 15-Jährigen gingen aufs Sportinternat und spielten in der Jugend bei Trainer Bob Hanning, der damals über sie sagte, sie erinnern ihn an Drux und Wiede: "Es wäre schön, wenn wir uns da wieder eine Generation erarbeiten würden, die bei den Füchsen spielen kann."

Was klingt wie der fromme Wunsch eines jeden Jugendtrainers, ist inzwischen Realität geworden. Nicht nur Langhoff und Lichtlein, auch Linksaußen Tim Freihöfer, Torhüter Lasse Ludwig und Rückraumspieler Max Beneke haben den Sprung zu den Profis geschafft. Fünf Freunde, die seit der Jugend zusammenspielen. Für die sich der erste große Traum erfüllt hat. Ihrer - und der von Visionär Hanning.

Hanning hat den Füchsen eine einzigartige Struktur verschafft: Mit dem 1. VfL Potsdam gibt es einen Kooperationspartner, wo der Topklub seine Talente - ausgestattet mit einem Zweitspielrecht - auf hohem Männerniveau parken und je nach Personalbedarf verschieben konnte. Die U21-Weltmeister haben allesamt beim Nachbarn gespielt, den Hanning persönlich als Trainer in der 2. Liga etabliert hatte - bis es zu einem folgenschweren "Unfall" kam: Hanning führte den Juniorpartner sensationell ins Oberhaus, auch weil Beneke die 2. Liga in Grund und Boden schoss. Für die Füchse war der Aufstieg keine gute Nachricht: Für Teams in der gleichen Spielklasse gibt es kein Zweitspielrecht. Ein Glück, dass sich Lichtlein und Co. zwischenzeitlich längst auf Topniveau etabliert haben.

Eine Vision hatte Hanning auch bei Jaron Siewert. Dieser spielte einst selbst bei den Füchsen. Doch Hanning sagte in seiner nüchtern-deutlichen Art: Aus dir wird kein Top-Profi. Aber als Trainer sehe ich dich. Gesagt, getan. Siewert startete in der Jugend der Füchse, war auch beim DHB-Nachwuchs aktiv, ehe er zum Zweitligisten TUSEM Essen wechselte und dem, unter seiner Leitung, der Aufstieg gelang. 2020 holte ihn Hanning zurück nach Berlin, da war Siewert gerade einmal 26 Jahre jung. Mit ihm geht es beständig Saison für Saison immer noch ein Stückchen nach oben, 2022/23 gab es den Titel in der European League, vergangenes Jahr die Vize-Meisterschaft und damit verbunden die Champions-League-Qualifikation.

"Man tut ihm Unrecht"

"Keine Sau spricht von Jaron Siewert, niemand. In keiner Diskussion wird Jaron Siewert erwähnt. Er fällt immer hinten runter. Da tut man ihm Unrecht", sagte Kretzschmar im März bei Dyn. "Das ist ein sehr, sehr guter Trainer, der in der Öffentlichkeit zu wenig Respekt bekommt für das, was er leistet." Siewert könnte der jüngste Meistertrainer aller Zeiten werden.

Und anschließend auch noch die Champions League gewinnen. Die Füchse stehen wie der SC Magdeburg im Final Four in Köln (14./15. Juni), müssen im Halbfinale gegen HBC Nantes ran. Doch der Sieger bekommt, anders als im Fußball, kein Freilos für die kommende Saison. Aber erst einmal wollen sie ja ohnehin ihren Traum von der Meisterschaft verwirklichen, alles andere kommt danach. Paul Drux, Anfang der Saison noch Kapitän des Teams, der seine Karriere im Oktober 2024 mit gerade einmal 29 Jahren verletzungsbedingt beenden musste, glaubt an die Meisterschaft und den Einzug ins Champions-League-Finale. Und sagte dem RBB: "Die Meisterschaft wäre das schlimmste Schönste, was passieren könnte."

Titel haben die Füchse Berlin in den letzten Jahren schon reichlich gesammelt: dreimal Europapokal-Sieger, zweimal Klubweltmeister, deutscher Pokalsieger. Eine deutsche Meisterschaft würde alle diese Titel in den Schatten stellen. Das Rennen um die deutsche Meisterschaft ist für Klubmannschaften der härteste Handball-Wettkampf der Welt. So hart, dass zahlreiche Stars in den vergangenen Jahren aus der Liga flohen, um sich dem Abnutzungskampf nicht stellen zu müssen. Für Gidsel ist die ständige Herausforderung Treibstoff, der Hochgeschwindigkeitsspieler gönnt sich selbst dann keine Pause, wenn Spiele längst entschieden sind.

Konkurrenz würde "es ihnen gönnen"

Für die Arbeit der Füchse gibt es inzwischen viel Anerkennung - auch von der Konkurrenz. Fynn Hangstein vom ThSV Eisenach etwa sagte nach dem Duell mit den Füchsen: "Ich hoffe es, das muss ich wirklich sagen. Da spricht auch der Fan in mir. Ich finde die Berliner, mit dieser Truppe, die sie in den vergangenen Jahren aufgebaut haben, spielen wahnsinnig attraktiven Handball. Sie hätten es meiner Meinung nach ganz einfach verdient, in der Bundesliga ganz oben zu stehen." Ob das Double mit der Königsklasse drin ist, sei "tagesformabhängig. Aber ich bin mal ein bisschen parteiisch und sage: 'Ich würde es ihnen gönnen'".

Denn die neue Realität der Füchse ist, dass sie offensiv kaum aufzuhalten sind und hochattraktiven Handball spielen. Nur in drei Ligaspielen erzielten sie in der bisherigen Saison weniger als 30 Tore. 1042 Treffer stehen für Berlin zu Buche, satte 134 mehr als beim Verfolger Melsungen. Gidsel und Co. überrennen ihre Gegner mit irrem Tempo. Gegen Bietigheim und Göppingen gelangen ihnen zuletzt sogar jeweils mehr als 40 Treffer. Die Tordifferenz ist so gut wie bei keinem anderen Team - das bringt die Füchse quasi mit einem halben Punkt in Front.

"Sie sind Monster", sagte Bietigheim-Trainer Iker Romero - und meinte das so bewundernd wie liebevoll. Als Legendenverehrung hängt das Trikot des Spaniers bei seinem Ex-Klub unter der Decke der Max-Schmeling-Halle. Er war damals dabei gegen Ademar Leon, als Hanning emotional angefasst war und sich mitten im Taumel an die Anfänge erinnerte. "Im Handball, im Leben", sagte Romero nach dem Handball-Wunder von Berlin, "ist alles möglich." Das jetzt, das ist noch mal drei Nummern größer.

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