Zwei Deutsche gegen den Rest der Welt
Allein das Zuschauen verursachte Schmerzen. Bei jedem Wurf konnte man die unfassbaren Qualen von Gisli Kristjansson nachempfinden, es war nichts weniger als eine Heldentat des Isländers. Im Halbfinale tags zuvor hatte er sich die rechte Schulter ausgekugelt, sein Mitwirken im Endspiel schien ausgeschlossen – und dann das: Der Rückraumspieler testete zwei Stunden vor dem Anpfiff des Duells mit Kielce seinen Wurfarm und befand gemeinsam mit der medizinischen Abteilung, es durchaus versuchen zu wollen.
Beim 30:29-Sieg seines SC Magdeburg war er schließlich mit sechs Treffern zweiterfolgreichster Schütze seiner Mannschaft und wurde zudem zum wertvollsten Spieler der Champions-League-Endrunde gewählt. Die Partybilder mit Kristjansson, der den Siegerpokal nur noch einarmig in die Höhe stemmen konnte, gingen 2023 in die Geschichtsbücher ein.
Die heroische Leistung allerdings musste der Weltklasse-Spieler seinerzeit teuer bezahlen, nach einer zwingend notwendigen Operation an der Schulter fiel er sechs Monate lang aus. Vor der Neuauflage des Turniers um Europas Handball-Krone sind jene Bilder von einem körperlich angeschlagenen Kristjansson wieder allzu präsent. Denn erneut ist der SC Magdeburg bis ins Halbfinale des Final Four vorgeprescht, und erneut ist der beste Spieler der Mannschaft verletzt.
Dennoch hoffen sie beim SCM auf eine ähnliche Wunderheilung, wie es sie schon vor zwei Jahren gegeben hat. Denn sie wissen nur allzu gut, dass sie den Regisseur brauchen, um zunächst im Halbfinale am Samstag (18 Uhr, Dyn/DF1) gegen den FC Barcelona und dann bei einem möglichen Endspiel 24 Stunden später bestehen zu können.
Taktiker Bennet Wiegert?
Zuletzt musste Trainer Bennet Wiegert auf den durchsetzungsstarken Isländer im Endspurt der Bundesliga verzichten. Beim 31:29 gegen den TBV Lemgo vor zwei Wochen schied Kristjansson mit einer Verletzung an der linken Schulter aus. Immerhin musste der schon oft verletzte Profi diesmal nicht operiert werden – er konnte aber seither auch noch keine Trainingseinheit bestreiten. In den beiden letzten Ligaduellen mit Flensburg (35:27) und Bietigheim (35:25) fiel der 25-Jährige aus. „Aus jetziger Sicht tue ich gut daran, ohne ihn zu planen“, sagte Wiegert unter der Woche. „Ich weiß nicht, wie und ob das funktionieren wird.“
Ganz aufgegeben aber hat er die Hoffnung auf ein Mitwirken seines Schlüsselspielers noch nicht. Vielleicht erweist sich der Sohn der Magdeburger Handball-Legende Ingolf Wiegert aber auch nur als gewiefter Taktiker, der aktuell nicht mehr preisgeben möchte als nötig. Denn immerhin reiste Kristjansson mit der Mannschaft am Donnerstag gemeinsam von Magdeburg nach Köln, wo die Endrunde stattfindet.
Dort gibt es ein Wiedersehen mit jenem Verein, der den Magdeburgern zuletzt in der Meisterschaft das Nachsehen gab: das Team der Füchse Berlin. Die Mannschaft von Coach Jaron Siewert bestreitet am Samstag ab 15 Uhr drei Stunden vor dem SCM seine Vorschlussrundenpartie gegen HBC Nantes (Dyn/DF1). Und im Gegensatz zum deutschen Kontrahenten sind bei den Berlinern alle Schlüsselspieler dabei – insbesondere Mathias Gidsel, dänischer Überflieger seiner Sportart. Allein sein Mitwirken befeuert die Fantasie des Hauptstadtklubs.
Mit Tempo-Handball zum Titel?
Denn was die Magdeburger mit ihren Triumphen 1978, 1981, 2002 und 2023 bereits viermal erlebt haben, ist den Füchse-Spielern bislang verwehrt geblieben: ein Erfolg in der Champions League respektive dem Europapokal der Landesmeister, wie der Wettbewerb bis 1993 hieß. Deshalb feierten die Profis um Gidsel und Co. nach der erstmals errungenen deutschen Meisterschaft am vergangenen Sonntag zwar ausgiebig und feuchtfröhlich. Aber seit Mittwoch gilt der volle Fokus wieder der Profession. „Unsere Reise“, erklärte Sportvorstand Stefan Kretzschmar, „ist noch nicht vorbei.“
Was die Handball-Ikone froh stimmen dürfte, ist die Leistungskurve seiner Mannschaft. In diesem Jahr sind die Berliner Ballwerfer ohne Niederlage in der Bundesliga geblieben und haben vor allem mit ihrem schnellen Angriffsspiel Maßstäbe gesetzt. „Ich hoffe, dass wir wieder den attraktiven Tempo-Handball der letzten Wochen spielen können“, sagte Trainer Siewert vor der Abreise zur Endrunde.
Trotz der namhaften Gegner um den zwölfmaligen Champions-League-Gewinner FC Barcelona sind sie nicht der Geheimfavorit auf den Titel, sondern vor allem dank Gidsel der aussichtsreichste Kandidat auf den ganz großen Wurf.
Gewohnt forsch geht Bob Hanning in das letzte Highlight dieser Saison. „Wir gewinnen die Champions League, da glaube ich wirklich fest dran“, hatte er bereits vor den Viertelfinalduellen im April mit dem letztjährigen Endspielteilnehmer Aalborg erklärt. Durch zwei Siege gegen den Kontrahenten aus Dänemark sicherten sich die Füchse das Ticket für das Final Four. „An meiner Sichtweise“, so der Geschäftsführer, „hat sich bis heute nichts geändert.“ An guten Tagen könne seine Mannschaft jeden Gegner dieser Welt bezwingen. Und von diesen guten Tagen gab es zuletzt ja außergewöhnlich viele.
Jens Bierschwale ist Sportredakteur bei WELT. Er berichtet seit vielen Jahren über Handball.
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