Die „Faust der Nation“ schlägt wieder zu
Er ist wieder zurück in seinem „Wohnzimmer“, dem legendären Wild Card Boxing Club. Und wie gewohnt pflegt Manny Pacquiao, dieser kleine, kompakte Mann mit der schmalen Taille, den kräftigen Armen und strammen Waden, seine Rituale. Er kniet in einer Ecke des Gyms, das Kinn fest an die Brust gepresst. Der einst beste Faustkämpfer der Welt betet, wie immer nach einem Sparring. Dann blickt er auf und lächelt in die Runde. Er sagt einige Worte in seiner philippinischen Muttersprache Tagalog, was seine zehnköpfige Entourage erheitert.
Die zwischen Santa Monica und Sunset Boulevard gelegene Trainingsstätte, nur wenige Blocks vom Zentrum Hollywoods entfernt, ist eine kalifornische Traumfabrik für Boxer. Eine Institution voller Blut, Schweiß und Tränen, in der zahlreiche Champions neben ehemaligen und aufstrebenden Kämpfern und sogar Hollywood-Stars wie Mickey Rourke und Mark Wahlberg auf Sandsäcke und Boxbirnen einprügelten.
Fast ein Vierteljahrhundert, nachdem Pacquiao zum ersten Mal den Wild Card Boxing Club betreten hatte, ist er nun zurück, um sich nach vierjähriger Ringpause mit Trainer Freddie Roach auf sein Comeback am 19. Juli in der MGM-Arena von Las Vegas einzustimmen. Herausgefordert wird der mittlerweile 46-Jährige von Mario Barrios. Der 16 Jahre jüngere Amerikaner ist Weltmeister im Weltergewicht des Verbandes World Boxing Council (WBC). Angesichts 1,83 Meter Größe und 180 Zentimeter Reichweite ist der schlaksige Titelverteidiger im Limit bis 67 Kilogramm für alle Gegner ein Alptraum – besser: für fast alle.
Manny Pacquiao mit seinen 1,68 Meter lässt sich von den vermeintlichen körperlichen Nachteilen nicht abschrecken. Das tat der quirlige Asiate noch nie in seiner glorreichen Karriere. „Ich habe mir meine Rückkehr lange und sehr genau überlegt“, sagt er WELT AM SONNTAG, als er auf dem Trainingsgelände in der „1123 Vine Street“ froh gelaunt aus seinem schwarzen Mercedes steigt und die gusseiserne Außentreppe hinaufsteigt: „Ich bin zurück, fühle mich wieder wie zu Hause und möchte noch einmal Geschichte schreiben.“
Einmal nur Pacquaio berühren
Zum Umdenken hat ihn die diesjährige Senatswahl bewogen. Von 2016 bis 2022 war Pacquiao auf den Philippinen Senator. Anschließend kandidierte er erfolglos für das Präsidentenamt. Als er dann auch noch den erneuten Einzug in den Senat verpasste, beschloss er, sich wieder intensiv dem Boxsport zu widmen, der ihn zum globalen Superstar gemacht hatte.
Jeden Nachmittag wird das üblicherweise öffentlich zugängliche Wild Card Gym für Pacquiao geräumt, damit er mit Roach ungestört an seiner Leistungsfähigkeit arbeiten kann. Vor dem Eingang wachen seine Assistenten, damit kein ungebetener Gast eintritt. Im Innenhof des Areals harren derweil Dutzende Filipinos aus, um ihrem Idol anschließend die Hände zu schütteln und um ein Autogramm oder Selfie zu bitten. Oder um Pacquaio einfach nur berühren zu dürfen – ihren in der Heimat als Nationalheld gehuldigten Landsmann, der von der Regierung die offiziellen Titel „National Treasure“ („Schatz der Nation“) und „National Fist“ („Faust der Nation“) verliehen bekam.
Auf der Fahrt zur Übungseinheit, erzählt Pacquiao, habe er daran gedacht, wie er im Frühjahr 2001 den großen Schritt von Asien nach Amerika wagte, zu dem ihn Promoter Bob Arum motiviert hatte, und welche simplen Ziele er mit seinem ersten Wild-Card-Besuch verfolgte. „Damals wollte ich einfach nur im Training eine gute Figur abgeben“, erinnert er sich, „ich war aufgeregt und hungrig und hoffte, irgendwann um eine Meisterschaft boxen zu können.“
Auch Roach, 65, dem das Wild Card Gym gehört, erinnert sich noch gut an die erste Begegnung mit dem schmächtigen Ankömmling. „Sein Name war mir kein Begriff, er sprach kaum Englisch, war sehr schüchtern. Aber schon nach der ersten Runde an den Pratzen war mir klar: Aus diesem Jungen wird mal ein ganz Großer.“
„Manny ist unerbittlich“
Weder davor noch danach habe er einen Boxer gecoacht, der so kraftvoll und schnell seine Hände fliegen ließ. „Und was ihn von anderen noch unterschied, war seine Arbeitsmoral“, betont Roach: „Manny ist unerbittlich.“ Die Trainerlegende, die selbst 53 Profikämpfe bestritt, betreute über 30 Weltmeister, darunter Oscar de la Hoya und Mike Tyson.
Nicht wenige aus der Boxszene äußerten sich skeptisch, als Pacquiao im Mai seinen Rücktritt vom Rücktritt erklärte. Zu deutlich fiel die Punktniederlage aus, die er in seinem bis dato letzten Duell im August 2021 gegen Yordenis Ugas aus Kuba, Titelträger der World Boxing Association (WBA), hinnehmen musste. In Pacquiaos 72. Profikampf war von seinen viel gepriesenen Stärken, seiner Explosivität, seiner Schnelligkeit, seiner Schlagfrequenz, nicht mehr viel zu sehen.
Dennoch zögerte Roach keine Sekunde, als ihn sein Lieblingsschüler fragte, ob er ihm bei seinem Comeback zur Seite stehen würde. „Ich bin fest überzeugt, dass Manny boxerisch immer noch brillieren kann. Er war und ist eine furchtlose Kampfmaschine und steigt nicht wegen des Geldes in den Ring“, versichert Roach, der an Parkinson leidet, was zu einem Zittern und leichten Hinken führt. Die Symptome verschwinden jedoch, wenn er mit seinem Schützling an den Pratzen trainiert.
Zwei Dollar Verdienst beim Profi-Debüt
Im Gegensatz zu anderen prominenten Rückkehrern geht es Pacquiao nach eigenem Bekunden nicht darum, noch mehr Geld zu verdienen. Das hat er schon zur Genüge: In seinen bislang 26 Kämpfen, die im Bezahlfernsehen ausgestrahlt wurden, generierte er einen Umsatz von über 1,3 Milliarden Dollar. Ein stattlicher dreistelliger Millionenbetrag davon floss auf sein Konto. Das Wirtschaftsmagazin Forbes führte ihn 2010 und 2015 als zweitbestbezahlten Sportler. Man bedenke: Für sein Profidebüt im Januar 1995 wurden dem damals 16-Jährigen ganze zwei Dollar zugesteckt. So erzählt er es in „Kid Kulafu“, einem autobiografischen Film. Der Titel spielt auf Pacquiaos ersten Spitznamen an, dem er einem Billigwein verdankte, deren leere Flaschen er als Kind gesammelt und verkauft hatte.
Um wie viele garantierte Millionen der aus ärmsten Verhältnissen stammende Vater von fünf Kindern nach dem Faustgefecht gegen Barrios reicher sein wird, ist noch ein Geheimnis. Wie früher auch wird er die Hälfte der Börse für das heimische Sozialsystem und dortige Wohltätigkeitsorganisationen spenden. Seinen Fokus richtet er derweil auf weitere historische Boxkapitel, die künftig mit seinem Namen in Verbindung stehen sollen. So wie der WM-Vereinigungskampf vor einem Jahrzehnt in Las Vegas gegen Lokalmatador Floyd Mayweather, den er umstritten verlor. Mehr als 4,6 Millionen Abonnenten spülten damals die Pay-Per-View-Rekordsumme von 410 Millionen Dollar in die Kassen.
Pacquiao ist zudem der Einzige, der sich über vier Jahrzehnte mit einem WM-Titel schmücken konnte und diesen in acht Gewichtsklassen erboxte – vom Fliegengewicht, wo er im Dezember 1998 zum Champion der World Boxing Organisation (WBO) aufstieg, über das Superbantamgewicht (Juni 2001), Federgewicht (November 2003), Superfedergewicht (März 2008), Leichtgewicht (Juni 2008), Halbweltergewicht (Mai 2009), Weltergewicht (November 2009) bis hin zum Halbmittelgewicht. Dort eroberte er im November 2010 durch einen Punkterfolg gegen den Amerikaner Antonio Margarito den WBC-Gürtel.
Berühmtester und ruhmreichster Exportartikel der Philippinen
Und sollte er Barrios, der 29 seiner 32 Profikämpfe gewann, am 19. Juli entthronen, würde Pacquiao auch seinen Altersrekord als Titelträger im Weltergewicht ausbauen – momentan hält er ihn mit 40 Jahren und 215 Tagen. Hinzu käme, dass der Rechtsausleger der Erste wäre, der nach der Aufnahme in die Internationale Boxing Hall of Fame einen WM-Thron besteigt. Ein Sextett hatte das bislang vergeblich versucht. Vor zwei Wochen erhielt Pacquiao die begehrte Weihe in Canastota. Die Ehrung erfolgt frühestens fünf Jahre nach dem letzten Kampf und gilt als schlussendliche Krönung des sportlichen Werdegangs.
Auch wenn Pacquiao in der Wählergunst seiner Landsleute nicht mehr so hoch im Kurs steht, bleibt er für sie der berühmteste und ruhmreichste Exportartikel der Philippinen, ein Symbol für den Triumph über alle Widrigkeiten. In dem von vielfältigen politischen Konflikten und sozialen Unruhen geprägten Inselstaat werden die Straßen leergefegt sein, wenn er wieder als Preisboxer ins Rampenlicht tritt. Auch die Kriminalitätsrate wird dann wieder gen Null sinken. „Manny ist nun einmal ein Phänomen“, betont sein langjähriger PR-Berater Fred Sternburg gegenüber WELT AM SONNTAG.
Bleibt eigentlich nur die Frage, wie es mit dem vergötterten Titan nach dem 19. Juli weitergehen wird. „Darauf möchte ich noch nicht antworten“, entgegnet Pacquiao und schmunzelt vielsagend: „Erst einmal möchte ich meine Mitmenschen mit einem Sieg beglücken. Dann können wir über den nächsten Kampf reden.“
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