Das Halbfinale gebucht, alle Emotionen durchlebt: Das DFB-Team liefert sich den emotionalsten Kampf dieser Fußball-Europameisterschaft. Weil vieles schiefläuft, aber doch nichts scheitert. Mentalität schlägt Talent, so Bundestrainer Christian Wück.

So hatte sich das die DFB-Leitung sicherlich nicht gedacht. Am 12. Juni hatten Bundestrainer Christian Wück und Co. in den Europa-Park geladen, um den Kader für die Fußball-Europameisterschaft in der Schweiz bekannt zugeben. Die Namen der 23 Nominierten sausten in den Händen von Kindern auf der Achterbahn vorbei. Dass diese Achterbahnfahrt nun sinnbildlich wird, ist nichts, was sich irgendjemand gewünscht haben kann.

Was für ein Glück, dass Wück nach dem irren Krimi im Viertelfinale sagen konnte: "Ich hatte in der Mannschaftsbesprechung gesagt, dass Mentalität Talent schlägt." Er sah sich nach dem Spiel gegen Frankreich (6:5 i.E.) bestätigt. Mehr als 100 Minuten hatte sich sein DFB-Team zu zehnt der hochbegabten Französinnen erwehren müssen - und nach dem Elfmeterschießen stehen sie im Halbfinale.

Zwar ist den Deutschen das Talent nicht abzusprechen, doch die Mentalität ist zweifelsohne das große Pfund. Sie überwinden Widerstände, schaffen es mit Sturheit, purem Willen und großem Kampf, die Gegnerinnen irgendwie am Tore schießen zu hindern. Es wirkte zwischenzeitig wie ein Ding der Unmöglichkeit, mehrfach stockte den frenetischen deutschen Fans der Atem. Rote Karte nach nur 13 Minuten für Kathrin Hendrich. Der dazu gegebene Elfmeter, den Grace Geyoro verwandelte. Die verletzungsbedingte Auswechslung von Sarai Linder - schon wieder Umbau in der Abwehrreihe. Der plötzliche Ausgleich nach Klara Bühls perfekt servierte Ecke auf den Kopf von Sjoeke Nüsken. Zwei weitere Tore für die Französinnen, die beide wegen einer Abseitsstellung kassiert wurden. Ein Elfmeter für das DFB-Team - den Nüsken zur Freude von Frankreichs Torhüterin Pauline Peyraud-Magnin zu schwach und unplatziert schoss.

Laufen bis zur maximalen Erschöpfung

Viel Beschäftigung mit Defensivaufgaben, maximal Entlastungsangriffe. Begleitet aber stets von dem, was die Spielerinnen versprochen hatten: Sich gegenseitig unterstützen, kompakt stehen - obwohl zu zehnt -, maximaler Einsatz auch von den Offensivleuten nach hinten. Jule Brand etwa entnervte Kadidiatou Diani bis zu deren Auswechslung.

Stürmerin Giovanna Hoffmann lief bis zur völligen Erschöpfung, rannte, kämpfte, ließ sich von sichtlichen Schmerzen nicht beirren. Franziska Kett spielte in ihrem EM-Debüt souverän und abgeklärt bis sie von Beinschmerzen geplagt in der Verlängerung ausgewechselt werden musste. Allein schon, dass sich die Deutschen in die Verlängerung retteten, war bemerkenswert. Dass sie diese dann auch noch überstanden, war fast ein Wunder.

Weil auch noch Kapitänin Janina Minge für Herzinfarkt-Gefahr sorgte. In der 103. Minute köpfte sie einen Ball aus der Mitte des Strafraums, doch statt ihn zu klären, lenkte sie ihn gefährlich aufs eigene Tor. Nur der Klasse von Torhüterin Ann-Katrin Berger war es zu verdanken, dass er nicht einschlug. "Reaktion und Instinkt", nannte Berger es. Eine Rettungstat der feinsten Art, auf Kosten von Schmerzen in der Schulter und dem Nacken.

Nach einer Behandlungspause ging es für sie weiter - und ihre Vorderleute mussten noch weitere Minuten auf dem Weg zum ersehnten Elfmeterschießen durchhalten. Klara Bühl attestierte ihrem Team, sie habe es "noch nie so laufen gesehen". Die Rote Karte habe eine "Jetzt-erst-recht-Mentalität" entwickelt. "Wir haben uns in die Augen geschaut und wussten, dass wir dran glauben", so Bühl.

Nervenflattern nur bei den Fans

Die Fans bedachten das alles mit Riesenjubel. Mit kollektivem Stöhnen. Mit noch größerem Jubel. Mit Gesängen. Mit Laola. Mit Applaus. Der Puls dürfte bei den meisten nicht viel niedriger gewesen sein als bei den Spielerinnen. Erst recht nicht im Elfmeterschießen. Berger blieb eiskalt, die Schützinnen taten es ihr - bis auf Sara Däbritz, die verschoss - gleich. Nichts da mit Nervenflattern - zumindest nicht am Punkt.

Berger betonte, diese Wagenburgmentalität habe schon nach der1:4-Pleite gegen Schweden eingesetzt, weil die Kritik an dem Spiel so groß war: "Überlegt mal, wenn ihr uns noch mehr zumutet, was wir dann noch erreichen können. Das finde ich wichtig. Das mussten wir mit uns selbst ausmachen, weil wir es von anderen Leuten nicht bekommen haben und so haben wir gesagt 'Jetzt erst recht'. Wir haben aus unseren Fehlern gelernt und haben unsere Chance genutzt und füreinander gekämpft." Sie betonte: "Als Mannschaft können wir unschlagbar sein."

Denn eigentlich lief ja alles schief. Und doch stehen die DFB-Frauen nun im Halbfinale der EM. Dort geht es gegen die Weltmeisterinnen aus Spanien (Mittwoch, 21 Uhr/ARD und im ntv.de-Liveticker), die die Deutschen bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr allerdings im Spiel um Bronze bezwingen konnten. Wer dann wird spielen können, ist noch unklar. Hendrich wird gesperrt fehlen, Nüsken nach der zweiten Gelben Karte ebenfalls. Die gegen Frankreich gesperrte Carlotta Wamser darf wieder mitmischen. Dürfen würde dies auch Linder, doch Wück war sich nicht sicher, ob ihre Verletzung einen Einsatz zulassen wird.

Nur wenig Zeit bleibt bis zum Duell mit Spanien. Wück hatte vor allem eines im Blick: "Mal schauen, ob wir noch elf Spielerinnen aufstellen können." Denn zu zehnt - das sorgt für zu viel Spiel mit den Gefühlen. Und hoffentlich fliegt dann auch niemand sinnbildlich aus der Achterbahn.

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