Unter den Taliban lebt fast die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans in Armut. Die Lage der Frauen hat sich dramatisch verschlechtert. Doch die Isolierung der Taliban beginnt zu bröckeln - vier Jahre nach ihrem Sieg.

Fatema holt ein Glas mit schwarzem losen Tee aus dem Regal. Ihr rotes Kopftuch leuchtet in der weißgekachelten Küche in Kabul, das Gesicht verborgen hinter einem schwarzen Mundschutz. Als die Taliban vor vier Jahren an die Macht kamen, war sie in der neunten Klasse.

Fatema ist nicht ihr echter Name, sie will zur Sicherheit lieber anonym bleiben. Ihr Traum, erzählt die 18-Jährige dem ARD-Studio Neu-Delhi, sei es gewesen, internationale Beziehungen zu studieren - ihr Lieblingsfach. Außerdem habe sie als Kickboxerin trainiert und vom Medaillengewinn für Afghanistan geträumt. Heute sagt sie: Nichts davon sei noch möglich.

Frauen wie Fatema sind aus dem öffentlichen Leben weitgehend verschwunden. Weiterführende Schulen und Universitäten sind für sie verboten, ebenso viele Berufe. Ein aktueller Erlass der Taliban untersagt Frauen sogar, sich öffentlich zu äußern oder zu singen - das sei ein "moralisches Vergehen".

Von den Versprechen ist nichts geblieben

Dabei hatten die Taliban 2021 noch zugesichert, Frauenrechte, zumindest im Rahmen der Scharia, zu respektieren. Heute zeigt sich: Das Gegenteil ist der Fall.

Veronika Staudacher von der Hilfsorganisation Caritas, die in Afghanistan unter anderem Frauen und Mädchen medizinisch versorgt, berichtet, dass die sogenannte Sittenpolizei ihre Kontrollen zuletzt massiv verschärft habe. An manchen Tagen seien mehr als hundert Frauen auf der Straße festgenommen worden, etwa wegen "unangemessener" Kleidung oder weil sie ohne männliche Begleitung unterwegs gewesen seien.

Auch die Arbeit der Caritas werde zunehmend erschwert. Afghanische Mitarbeiterinnen dürfen weiterhin nicht für ausländische Organisationen tätig sein.

Die Taliban versuchten gezielt, die Arbeit der Hilfsorganisationen zu beeinflussen, berichtet Staudacher. Es gebe starke Einschränkungen, langwierige bürokratische Prozesse und immer wieder massive Verzögerungen. Die Hilfe vor Ort erfordere ständige Verhandlungen mit den Taliban, sagt Staudacher.

Laut den Vereinten Nationen haben die Taliban seit ihrer Rückkehr an die Macht rund 100 Dekrete erlassen, die gezielt Frauenrechte einschränken. Zurückgenommen wurde bislang keines. Mehr als 78 Prozent der afghanischen Frauen sind weder in Ausbildung noch beruflich aktiv.

Mehr Sicherheit durch Ende des Bürgerkrieges

Auf dem Mandawi-Markt, dem größten Basar Kabuls, scheint das Leben indes normal weiterzugehen. Händler preisen Hülsenfrüchte, Gewürze und Nüsse an. Die Taliban behaupten, sie hätten das Land stabilisiert.

Hamdullah Fetrat, stellvertretender Sprecher des Islamischen Emirats, sagte der ARD, die Arbeitslosigkeit sei eines der Hauptprobleme gewesen, die man geerbt habe. Durch wirtschaftliche Programme und Strategien habe man neue Jobs geschaffen. Auch Wechselkurs und Marktpreise würden kontrolliert - Preissteigerungen seien nicht erlaubt.

Einige Ladenbesitzer stimmen zu. Mansoorudin Azizi, 53 Jahre alt, lobt die aktuelle Sicherheitslage. Früher hätten sie ihre Geschäfte schon um 19 Uhr geschlossen, weil Diebe unterwegs gewesen seien. Heute könnten sie länger geöffnet bleiben. Etwa 80 Prozent der Waren würden inzwischen im Land selbst produziert - Joghurt, Saft oder Käse seien günstiger als die importierten Produkte.

Die Taliban sagen, die wirtschaftliche Lage stabilisiere sich. Doch mehr als 20 Millionen Menschen im Land sind auf Hilfe angewiesen.

Millionen auf Hilfe angewiesen

Aber die Realität vieler Menschen sieht anders aus. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, viele bewerben sich um Jobs im Ausland. Fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung, rund 23 Millionen Menschen, ist laut Hilfsorganisationen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Nasir Ahmad, Vater von sechs Kindern, sagt, er habe nie um Geld gebettelt, aber zeitweise darüber nachgedacht, jemanden zu finden, der ihn überfährt, nur damit seine Kinder als Waisen besser versorgt werden. "Sie haben mich um Dinge gebeten, aber ich konnte ihnen nichts kaufen. Nur Allah war noch bei mir", sagt er.

Verschärft wird die Lage auch durch eine große Zahl abgeschobener Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan und dem Iran. Allein in diesem Jahr hat Afghanistan etwa zwei Millionen Menschen aus den beiden Nachbarländern aufgenommen. Gleichzeitig ist mit dem Ende der amerikanischen Entwicklungshilfe-Agentur USAID ein erheblicher Teil der internationalen Hilfe weggefallen.

Veronika Staudacher von der Caritas spricht von verheerenden Folgen: Viele Hilfsorganisationen hätten ihre Arbeit einstellen oder Projekte abbrechen müssen. Nicht nur die USA hätten ihre Mittel gekürzt, auch die deutsche Unterstützung sei weltweit um etwa 50 Prozent reduziert worden. Zwar sei ihre Organisation bislang verschont geblieben, doch ihr Büro erhalte vermehrt Anfragen, auch in anderen Bereichen Hilfe zu leisten.

Mehr diplomatische Beziehungen

International erkennen die meisten Länder die Taliban weiterhin nicht formell an. Doch die internationale Isolation beginnt zu bröckeln. Laut dem International Institute for Strategic Studies haben 17 Staaten ihre Vertretungen in Kabul wiedereröffnet.

Die Taliban selbst unterhalten nach eigenen Angaben 39 Botschaften und Konsulate weltweit. Im Juli hat Russland die Taliban als erstes Land offiziell als Regierung anerkannt.

Auch Deutschland weicht seine Haltung allmählich auf, unter anderem, um Abschiebungen durchzusetzen: Zwei Taliban-Vertreter sollen in der afghanischen Botschaft in Berlin akkreditiert werden.

An Deutschland richtet der stellvertretende Sprecher des Islamischen Emirats, Hamdullah Fetrat, eine klare Botschaft: Die Afghanen und das Islamische Emirat wollten mit allen Ländern, auch mit Deutschland, gute Beziehungen. Es sei offizielle Politik, dass von Afghanistan keine Bedrohung für andere Staaten ausgehe.

Die Hoffnung auf ein besseres Morgen

Zurück bei Fatema in Kabul: Sie sitzt im Schneidersitz am Fenster. Draußen bewegen sich die Blätter im Wind. Ihr Alltag spiele sich fast vollständig innerhalb ihrer vier Wände ab. Nur die Koranschule darf sie noch besuchen.

Meistens liest sie religiöse Texte oder den Koran. Auch Schulbücher hat sie noch, aber sie versuche, sie möglichst nicht anzuschauen: "Es tut zu weh."

Das Leben gehe zwar weiter, sagt sie, aber es sei sehr schwer - für ein Mädchen, das früher motiviert und voller Hoffnung gewesen sei: "Ich fühle mich wie im Gefängnis."

Die Taliban, sagt sie, hätten ihr grundlegende Rechte genommen. Und doch, trotz allem, hält sie an ihrer Hoffnung fest: "Auch wenn es immer härter wird - wir kämpfen weiter, wir leisten Widerstand. Was auch immer sie denken: Es wird nicht für immer so bleiben. Eines Tages werden wir unsere Ziele erreichen, wenn nicht heute, dann vielleicht morgen."

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