Der frühere ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba saß an zahlreichen Verhandlungstischen. Im Interview spricht er über die Folgen des Alaska-Treffens und seine Erwartungen an den Selenskyj-Besuch in Washington.

tagesschau.de: Sie waren bis September 2024 Außenminister der Ukraine. Wie bewerten Sie als erfahrener Diplomat den Alaska-Gipfel zwischen US-Präsident Donald Trump und Russlands Machthaber Wladimir Putin?

Dmytro Kuleba: Im Grunde haben wir nichts Neues gehört. Formell ist es natürlich ein Erfolg für Putin, dass er in die USA geflogen ist, dort begrüßt wurde und Gespräche geführt hat. In dieser Hinsicht hat Trump Putins Traum wahr gemacht: Denn er hat immer von einem Szenario geträumt, in dem er und der Präsident der Vereinigten Staaten gemeinsam über das Schicksal der Welt und einzelner Länder entscheiden.

Aber es gibt keine wesentlichen Erfolge als Ergebnis dieses Treffens. Aus einem einfachen Grund: Alle reden davon, dass Trump und Putin sich auf etwas einigen könnten - natürlich können sie das. Aber Trump hat keine Hebel, um Europa und die Ukraine zu brechen und sie zu zwingen, seine Vereinbarung mit Putin umzusetzen. Deshalb liegt der Schlüssel derzeit nicht in den USA und nicht in Russland. Der Schlüssel liegt hier auf dem europäischen Kontinent.

tagesschau.de: Was meinen Sie damit?

Kuleba: Wenn die Ukraine und die übrigen europäischen Länder weiterhin koordiniert zusammenarbeiten und Europa seine Waffenproduktion ausbaut, dann werden Trump und Putin gemeinsam keine kritisch negativen Szenarien umsetzen können.

Zur Person Dmytro Kuleba ist ein ukrainischer Politiker und Diplomat, der sich auf internationale Sicherheitsfragen spezialisiert hat. Von 2020 bis 2024 war er ukrainischer Außenminister. Seit seinem Ausscheiden aus dem Amt ist Kuleba unter anderem auch als Professor für Internationale Beziehungen tätig.

Dreiertreffen als nächstes Ziel

tagesschau.de: Viele Menschen in der Ukraine haben mit Entsetzen und Fassungslosigkeit auf die Bilder aus Alaska reagiert. Der rote Teppich für Putin, der Applaus von Trump, die gemeinsame Autofahrt im "Beast" des US-Präsidenten. Was haben Sie empfunden?

Kuleba: Ich hatte keine Emotionen. Ich denke, dass dieses Treffen mehr Unklarheit als Klarheit geschaffen hat. Und jetzt hängt alles davon ab, ob Putin tatsächlich einem Dreiertreffen mit Trump und Selenskyj zustimmt. Im Idealfall sogar einem Vierertreffen, damit auch Vertreter Europas dabei sind.

Wenn es zu einem solchen Treffen kommt, wird es praktisch unmöglich sein, daraus ohne Vereinbarungen herauszugehen. Solange Putin sich einem solchen Treffen entzieht und nur Forderungen stellt, würde ich grundsätzlich keine großen Veränderungen erwarten. Der wichtigste Indikator dafür, ob Putin Frieden will, ist die Situation an der Front. 

"Ein Ping-Pong-Spiel, das Putin geschickt ausspielt"

tagesschau.de: Und da rückt die russische Armee an mehreren Abschnitten vor, das Tempo nimmt zu, es gelingen Durchbrüche.

Kuleba: Wenn man keine Verringerung der Kampfhandlungen und der Offensivaktivitäten Russlands sieht, bedeutet das, dass Putin sich einfach Zeit verschafft, indem er Trump von sich ablenkt.

Man kann Trumps Präsidentschaft seit seiner Amtseinführung in mehrere Phasen einteilen: Eine erste Phase, in der er sich entschieden gegen die Ukraine und den Rest Europas stellte und im Grunde genommen auf Putins Seite stand. In der zweiten Phase stellte er sich gegen Putin und baute einen normalen Dialog mit den Europäern und der Ukraine auf. Und jetzt, nachdem Putin im Wesentlichen sein Ziel erreicht hat, hat er Trump wieder umgestimmt: "Donald, geh' und kläre diese Fragen nun mit den Europäern, zwinge sie und die Ukrainer dazu." Das ist alles, was passiert ist.

Es ist ein Ping-Pong-Spiel, das Putin leider geschickt ausspielt. Sein Ziel ist nicht ein Waffenstillstand und Frieden. Sein Ziel ist es, zu verhindern, dass Trump wirklich harte Entscheidungen gegenüber Russland trifft. Und diese Aufgabe hat er jetzt erfolgreich gemeistert. Wir hören nichts von Sanktionen, wir hören keine Drohungen gegenüber Moskau.

"Trump loben und die Europäer aufwecken"

tagesschau.de: Welchen Rat würden Sie Präsident Selenskyj für seinen Termin im Oval Office geben, wenn Sie noch Außenminister wären?

Kuleba: Wolodymyr Selenskyj braucht in dieser Hinsicht keine Ratschläge. Er versteht alles sehr gut. Und im Moment verfolgt er in seinen Beziehungen zu Trump und zur Europäischen Union die einzig tragfähige Strategie: Trump loben und die Europäer aufwecken - das heißt, sie zum Handeln anzuspornen.

Denn wir haben alle gehört, wie Europa große Ankündigungen gemacht und von wichtigen Entscheidungen gesprochen hat - etwa von der Aufrüstung und von Investitionen. Aber seit dem Frühjahr, als diese Entscheidungen getroffen wurden, hört man nichts mehr. Jetzt kommt es auf die Menge an Waffen an, die Europa herstellen und kaufen kann.

Ein weiterer Aspekt ist das Ausmaß der Zusammenarbeit Europas mit den Vereinigten Staaten beim Kauf von Waffen. Man muss verstehen, dass der Ablauf des Krieges immer noch auf dem Gefechtsfeld entschieden wird. Und der ukrainische Soldat an vorderster Front ist heute ein wichtiger Akteur in der Außenpolitik. Wenn er seine Stellung hält, hat Selenskyj eine starke Verhandlungsposition. Wenn der ukrainische Infanterist seine Stellung nicht hält, schwächt sich die Verhandlungsposition von Selenskyj ab. So einfach ist das.

Gebietstausch als "totgeborene Geschichte"

tagesschau.de: Putin fordert von der Ukraine, Gebiete abzutreten, die von der russischen Armee nicht kontrolliert werden. Trump spricht von "land swap", einem sogenannten Gebietstausch. Was sagen Sie zu dieser Diskussion?

Kuleba: Das ist alles Unsinn. "Land swap" ist eine reißerische Überschrift. Es gibt keinen Gebietstausch. Stellen Sie sich vor: Ein Dieb bricht in Ihr Haus ein, stiehlt Ihr Auto und Ihr Fahrrad aus der Garage. Dann klopft er an die Tür und sagt: "Schau, ich gebe dir das Fahrrad zurück, aber du unterschreibst hier, dass du nie wieder versuchen wirst, das Auto zurückzubekommen." Das ist kein "land swap". Ein "land swap" wäre, wenn ich der Ukraine die Region Kursk gebe und die Region Donezk behalte.

Abgesehen davon wird Selenskyj dem niemals zustimmen, weil es gegen die Verfassung und die Gesetzgebung verstößt. Das würde das Ende seiner politischen Karriere und den Zusammenbruch des Landes bedeuten. Das heißt, Putin würde sein Ziel einfach auf andere Weise erreichen, weil die Ukraine von innen heraus explodieren würde. Denn der größte Teil der Gesellschaft würde das nicht akzeptieren.

Das ist eine absolut totgeborene Geschichte, aber sie klingt einfach sexy. Deshalb haben alle angefangen, darüber zu reden. Trump hat es einmal gesagt, und schon ging es los.

"Wir brauchen so etwas wie die Ein-China-Politik"

tagesschau.de: Welche Form der Einigung halten Sie aktuell für realistisch?

Kuleba: Die einzige Option ist eine Formulierung, in der steht, dass die Ukraine und Russland entlang einer bestimmten Linie Halt machen und weitere Fragen zu diesen Gebieten auf diplomatischem Wege geklärt werden. Grob gesagt: Wir brauchen so etwas wie die Ein-China-Politik.

Der langjährige US-Außenminister Kissinger hatte eine Formulierung gefunden, die von den Chinesen so verstanden wurde, dass die USA anerkannt haben, dass Taiwan zu China gehört. Die USA und Taiwan hingegen interpretierten das in Richtung der Anerkennung eines unabhängigen Taiwans. Darin lag die Genialität dieses Textes, und er hat sich seit den 1970er-Jahren gehalten.

So eine geniale Formulierung brauchen wir auch. Das ist das Einzige, was funktionieren würde. Die Ukraine würde dem zustimmen. Und Putin müsste, wenn er den Krieg wirklich beenden will, tatsächlich auf diese Zugeständnisse eingehen. Denn de facto würde dieses Gebiet unter seiner effektiven Kontrolle bleiben.

Kuleba erwartet keine Durchbrüche in Washington

tagesschau.de: Was erwarten Sie von dem Gespräch zwischen Trump und Selenskyj? Im Februar war es ja im Oval Office zu einem Eklat gekommen.

Kuleba: Ich denke, es wird ein normales Gespräch werden. Trump wird einige Vorschläge machen, die Selenskyj höflich ablehnen wird. Selenskyj wird versuchen Trump zu zeigen, dass die Ukraine für ihn ein strategisch vorteilhafter Partner ist. Aber dafür muss Trump die Interessen der Ukraine in seinen Gesprächen mit Putin verteidigen.

Ich habe keine Durchbrüche vom Treffen in Alaska erwartet und erwarte auch keine vom Treffen in Washington. Aber es ist sehr wichtig, dass diese Gespräche stattfinden. Das Schlimmste wäre, wenn alle aufhören würden zu reden.

tagesschau.de: Politisch gibt es derzeit eine neue Dynamik. Welche Aussichten können sich daraus ergeben?

Kuleba: Es gibt kurzfristige, mittelfristige und langfristige Perspektiven. Ist ein Waffenstillstand kurzfristig möglich? Ja. Ist ein Ende des Krieges mittelfristig möglich? Nein.

Selbst wenn ein Waffenstillstand erreicht wird, wird er nicht zum Ende des Krieges führen. Es wird eine Pause sein, in der sich beide Seiten auf die entscheidende Schlacht vorbereiten werden. Die Frage wird nur sein, wer diese Pause besser nutzt.

In dieser Hinsicht hat Putin in Russland einen Vorteil. Erstens steuert er die Kriegswirtschaft selbst. Was er sagt, wird auch getan. Er braucht kein Gleichgewicht, keine demokratischen Verfahren, keine Opposition - all das gibt es nicht. Zweitens ist Putin nicht entscheidend von der Position seiner Partner abhängig, anders als die Ukraine. Daher sind Russlands Chancen, die Pause zu nutzen, derzeit besser als die Chancen der Ukraine und Europas.

Wenn diese Pause in Form eines Waffenstillstands eintritt, wird es eine zentrale Aufgabe der Europäer sein, sich nicht zu entspannen. Denn das wäre nur der Auftakt zu einem weiteren Krieg - auch auf dem Gebiet der Europäischen Union.

Das Interview führte Vassili Golod, ARD-Studio Kiew

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