Der Druck auf die türkische Opposition wächst
Er ist Erdoğans größter Rivale: Heute muss sich der inhaftierte Istanbuler Oberbürgermeister İmamoğlu vor Gericht verantworten. Der Vorwurf: Er habe bei seinem Diplom betrogen. Die Opposition spricht von einer Kampagne.
Dienstagmittag: Der zentrale Taksim-Platz ist abgesperrt. Viel Polizei ist auf der Straße. Die CHP hält eine Kundgebung am Atatürk-Denkmal ab, feiert ihr 102-jähriges Bestehen. Doch die Stimmung könnte besser sein. Die Partei steht unter großem Druck.
Viele ihrer Vertreter wurden verhaftet, manche durch Zwangsverwalter ersetzt. Hier macht man die Erdoğan-Regierung dafür verantwortlich. Unter großem Beifall legt der Parteivorsitzende Özgür Özel einen Kranz am Denkmal nieder und hält eine kämpferische Rede.
Man wolle sich nicht unterkriegen lassen, notfalls das Land lahmlegen. Immer wieder skandiert die Menge den Namen des inhaftierten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu.

"Vorwürfe scheinen etwas konstruiert" - Markus Rosch, ARD Istanbul, zum Prozessauftakt gegen Istanbuls OB İmamoğlu
tagesschau24, 12.09.2025 11:00 UhrAngeblicher Diplombetrug
Seit März 2025 sitzt İmamoğlu im Gefängnis - ohne Anklageschrift, ohne Beweise vorzulegen. Die Vorwürfe der staatsnahen Justiz: Fälschung bei der Erlangung seines Diploms, Korruption und Terrorunterstützung.
Das Istanbuler Gericht hat den ersten Verhandlungstermin zum Hochschulabschluss für heute angesetzt. Pikant dabei: In der Türkei ist ein Hochschulabschluss eine Voraussetzung für das Präsidentenamt, eine Verurteilung würde Imamoğlu von der nächsten Wahl ausschließen.
Profitieren würde davon einer: Präsident Recep Tayyip Erdoğan. In Umfragen liegt der seit mehr als 20 Jahren regierende AKP-Politiker hinter Imamoğlu.
Und auch wenn Erdoğan eigentlich laut Verfassung nicht mehr als Präsidentschaftskandidat antreten dürfte, gehen viele Beobachter davon aus, dass er entweder die Verfassung ändert oder vorzeitige Neuwahlen ausruft. Dann könnte der 71-Jährige erneut antreten.

CHP-Anhänger demonstrieren gegen die Festnahme des Oberbürgermeisters İmamoğlu.
Erdoğans härtester Widersacher
Imamoğlu ist Erdoğans große Rivale und vermutlich der Einzige, der ihm politisch gefährlich werden kann. Der 54-Jährige hat bereits zweimal Erdoğans AKP eine empfindliche Wahlniederlage beigefügt. Sowohl 2019 als auch 2024 gelang es ihm, die Wahlen in der wichtigen Metropole Istanbul zu gewinnen - obwohl sich der Präsident massiv in den Wahlkampf eingemischt hatte.
Imamoğlu gilt als charismatisch, ist ein guter Redner und hat es bei Wahlen geschafft, nicht nur die liberalen Türken, sondern auch konservative Muslime hinter sich zu bringen. In Istanbul gilt er als Macher, der auf die Menschen zugeht und Probleme lösen kann.
Er etablierte einen neuen Politikstil, indem er Angriffe auf politische Gegner vermied und auf Einigkeit setzte. Seine CHP, die größte Oppositionspartei, hat bei den Kommunalwahlen im März 2024 von seinem Erfolg profitiert und die Wahlen deutlich gewonnen. Seitdem regiert sie in allen großen Städten der Türkei.
Wenige Tage vor seiner Verhaftung wollte sich İmamoğlu eigentlich bei einem Parteikonvent zum Präsidentschaftskandidaten aufstellen lassen. Doch auch die Verhaftung konnte das nicht verhindern: Per Urwahl wurde der Istanbuler Oberbürgermeister in Abwesenheit einstimmig nominiert. Eine Verurteilung wegen Diplombetrugs könnte eine Kandidatur aber rechtlich unmöglich machen.
Größte Oppositionspartei unter Druck
Seit März 2025 steht die CHP unter großem politischen Druck. Zahlreiche Bürgermeister wurden abgesetzt, teilweise verhaftet, Ermittlungsverfahren gegen Parteimitglieder eingeleitet. Daraufhin kam es zu landesweiten Protesten. In Istanbul gab es mit mehr als einer Million Teilnehmern eine der größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes.
Doch die Regierung und Justiz konnte das nicht beeindrucken, die Opposition wurde weiter attackiert. Die Friedrich-Ebert-Stiftung spricht in ihrem Türkei-Newsletter von einer "beispiellosen Repression gegen die größte Oppositionspartei CHP".
Der vorläufige Höhepunkt: Letzte Woche setzte ein Istanbuler Gericht den Landesvorsitzenden und die gesamte Führungsriege der Istanbuler CHP ab. Der Gouverneur setzte einen Zwangsverwalter ein. Begründung: angebliche Unregelmäßigkeiten beim Wahlparteitag im Jahre 2023.

CHP-Chef Özgür Özel legt auf dem Taksim-Platz einen Kranz am Denkmal der Republik in Istanbul ab.
Tumultartige Szenen
Die CHP bestritt die Vorwürfe. Der Parteivorsitzende Özel sprach von einem Putsch und beschuldigte den Präsidenten, ein Ein-Parteien-System russischer Art zu schaffen. Özel rief daraufhin die Bevölkerung dazu auf, auf die Straße zu gehen.
Trotz dreitägigen Demonstrationsverbotes versammelten sich Hunderte Menschen vor der Parteizentrale und versuchten, das von der Polizei abgeriegelte Gebäude zu stürmen. Ein massives Polizeiaufgebot verhinderte das. Es kam zu tumultartigen Szenen.
Im ARD-Interview sagte einer der Teilnehmer, dass die Demokratie in der Türkei am Ende sei und er dafür kämpfen werde, dass sein Land keine Theokratie - ein Gottesstaat - werde. Seitdem herrscht gespannte Ruhe, die CHP will am Wochenende in Ankara ihre Anhänger wieder auf die Straße bringen.
Trifft es als Nächsten den Parteichef?
Die CHP steht nun vor einer Zerreißprobe. Denn als Nächstes könnte es auch den Vorsitzenden Özgür Özel treffen. Am 15. September soll ein Gericht in Ankara darüber entscheiden, ob es beim CHP-Nationalparteitag 2023 Unregelmäßigkeiten gab.
Das könnte dazu führen, dass der dort gewählte Parteichef Özel abgesetzt wird. Konsequenz: Der ehemalige Vorsitzende Kemal Kılıcdaroğlu würde wieder eingesetzt. Doch der hat in der Partei keine Mehrheit und ist äußerst unbeliebt. Das könnte zur Spaltung der traditionsreichen, von Staatsgründer Kemal Atatürk gegründeten Partei führen.
Für viele Parteianhänger wäre das ein Horrorszenario. Denn damit hätte Präsident Erdoğan sein Ziel erreicht: Die Spaltung der mächtigen traditionsreichen Oppositionspartei. Doch Parteichef Özel will dagegenhalten: "Wenn Erdogan mit mir ein schmutziges Spiel spielt, dann werden wir das auch tun", warnte er am Wochenende in einem Interview.
Zermürbungstaktik wirkt offenbar
Doch der ständige Druck und die ständige Bevormundung durch die Regierung haben viele Menschen in der Türkei zermürbt und desillusioniert - auch die Studentin Selen. Die Istanbulerin war bei den Protesten gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters dabei. Nun, sagt sie, habe sie nur noch wenig Hoffnung, dass sich etwas ändern könne. Zu brutal gehe die Regierung und die ihr unterstellte Justiz gegen die Opposition vor.
Selen will das Land verlassen, möglichst schnell. Sie will nach Europa. Doch das ist schwierig, denn die Visa seien schwer zu bekommen und das Verfahren dauere ewig. Am Ende bricht auch bei ihr die Wut wieder durch. Falls der Oppositionsführer Özel nächste Woche abgesetzt werden sollte, werde sie doch noch einmal auf die Straße gehen, sagt sie trotzig.
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