UN werfen Israel Genozid im Gazastreifen vor
Eine UN-Kommission wirft Israel Völkermord im Gazastreifen vor - die Verantwortung dafür trage die höchste politische Ebene. Die israelische Führung weist den Bericht der Kommission als "verleumderische Tirade" zurück.
Israel begeht nach Auffassung der unabhängigen Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats im Gazastreifen Genozid. Vier der fünf in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 erwähnten Tatbestände seien erfüllt, befindet die dreiköpfige Kommission.
Die Kommission nennt als Tatbestände: Tötung, schwere körperliche oder seelische Schädigung, vorsätzliche Schaffung von Lebensbedingungen, die auf die vollständige oder teilweise Zerstörung der palästinensischen Bevölkerung abzielen, und Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten. Zivilisten würden getötet, humanitäre Hilfe blockiert, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen systematisch zerstört und religiöse Einrichtungen angegriffen.

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tagesschau24, 16.09.2025 14:00 UhrKommission spricht von Vorsatz
In dem Bericht heißt es weiter: "Es gibt auch indirekte oder Indizienbeweise für einen besonderen Vorsatz (dolus specialis) im Verhaltensmuster der politischen und militärischen Behörden Israels sowie in den Militäroperationen, die unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Beweise die erforderliche spezifische Absicht zur Begehung von Völkermord belegen."
Vorsitzende der 2021 eingerichteten Kommission zur Prüfung möglicher Verletzungen des internationalen Völkerrechts in den besetzten palästinensischen Gebieten und Israel ist Navi Pillay. Sie war früher Richterin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Pillay hat aus Gesundheitsgründen ihren Rücktritt eingereicht, der im November wirksam wird.
Interviews mit Opfern und Zeugen
Die israelische Regierung habe "seit fast zwei Jahren eine völkermörderische Kampagne mit der spezifischen Absicht inszeniert, die radikal-islamische Hamas in Gaza zu vernichten", sagte Pillay. Zur Untermauerung ihres Vorwurfs verweist die Kommission auf das Ausmaß der Opfer, die Blockade von Hilfslieferungen sowie auf Zwangsvertreibungen.
Als Beweismittel führt der Bericht unter anderem Interviews mit Opfern und Zeugen, verifizierte öffentliche Dokumente und die Auswertung von Satellitenbildern auf.
Die dreiköpfige Kommission kommt zudem zu dem Schluss, dass Äußerungen von Netanjahu und anderen Regierungsvertretern ein "direkter Beweis für die völkermörderische Absicht" seien. Der Bericht zitiert einen Brief Netanjahus an israelische Soldaten vom November 2023, in dem er den Einsatz im Gazastreifen mit einem, wie die Kommission es beschreibt, "heiligen Krieg der totalen Vernichtung" aus der hebräischen Bibel vergleicht. Namentlich genannt werden auch der israelische Präsident Izchak Herzog und der ehemalige Verteidigungsminister Joav Gallant.
Bericht untersucht Geschehnisse seit 7. Oktober 2023
Der Bericht bezieht sich auf die Geschehnisse seit dem Terrorangriff der militant-islamistischen Hamas und anderer Extremisten auf Israel am 7. Oktober 2023.
Israel betont stets, es bekämpfe im Gazastreifen die Hamas und nicht die Zivilbevölkerung. Die Hamas missbrauche die Zivilisten immer wieder als "menschliche Schutzschilde". Der Krieg könne sofort enden, wenn die Hamas die 48 verbliebenen Geiseln freilasse und die Waffen niederlege, sagte die Regierung wiederholt. Verhandlungen über ein weiteres Waffenruhe-Abkommen stocken jedoch.
UN-Konvention zu Völkermord Das "Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" der Vereinten Nationen (UN) bezeichnet damit die gezielte Verfolgung von Bevölkerungsgruppen, die sich durch Sprache, Religion und Tradition von anderen unterscheiden - mit dem Ziel, diese Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.Dazu gehören neben Tötungen auch Maßnahmen, die schweren körperlichen oder seelischen Schaden anrichten, genauso wie die Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die zu körperlicher Zerstörung führen können.
Die UN-Konvention ordnet dem Völkermord auch zu, wenn gezielt Geburten verhindert oder Kinder verschleppt werden. Auch wenn der Begriff Völkermord an millionenfaches Morden erinnert, spielt die Zahl der Opfer laut UN-Konvention keine Rolle. Mit der Ratifizierung haben sich die UN-Mitglieder verpflichtet, Verbrechen dieser Art zu verhüten und zu bestrafen.
Die Konvention trat 1951 als Folge des von Nazi-Deutschland ausgehenden Holocausts in Kraft, dem unter anderem bis zu sechs Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen.
Israels Botschafter spricht von "verleumderischer Tirade"
Der Botschafter Israels in Genf, Daniel Meron, sprach von einem skandalösen Bericht. "Israel weist die verleumderische Tirade kategorisch zurück", sagte er. Mit keinem Wort würden die Terrorakte der militant-islamistischen Hamas erwähnt. Er warf den Kommissionsmitgliedern vor, antisemitische Neigungen zu haben.
Israel erkennt wie die USA unter Präsident Donald Trump den UN-Menschenrechtsrat als Autorität nicht an und wirft ihm und seinen Kommissionen grundsätzlich vor, gegen Israel voreingenommen zu sein. Der Menschenrechtsrat besteht aus 47 Ländern, die jeweils für drei Jahre von der UN-Generalversammlung gewählt werden.
Auch Verfahren wegen Völkermords
Israel sieht sich zudem mit einem Völkermordverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag konfrontiert. Die Regierung in Jerusalem weist solche Anschuldigungen zurück und beruft sich auf ihr Recht auf Selbstverteidigung nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023. Dabei wurden israelischen Angaben zufolge 1.200 Menschen getötet und 251 als Geiseln genommen.
Im darauffolgenden Krieg im Gazastreifen sind nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Behörden bislang mehr als 64.000 Menschen getötet worden.
Einschätzung deutscher Experten
Zur Position der Bundesregierung hinsichtlich der Beurteilung der UN-Kommission sagte Europa-Staatsminister Gunther Krichbaum in Brüssel: "Zunächst schließen wir uns diesem Urteil nicht an. Wir reden hier nicht von einem Genozid, wenngleich die humanitäre Versorgung der Menschen in Gaza nach wie vor zutiefst besorgniserregend ist."
Inzwischen kommen einige deutsche Experten, die zu Beginn des Krieges im Gazastreifen noch vor vorschnellen Genozid-Vorwürfen gewarnt hatten, zu einer anderen Einschätzung. Kai Ambos, Völkerrechtler von der Universität Göttingen, und Stefanie Bock, Professorin für Internationales Strafrecht in Marburg, schreiben etwa in einem Aufsatz für die Deutsche Richterzeitung: "Zusammengefasst spricht die Dynamik des Konfliktgeschehens in einer Gesamtschau mittlerweile eher für statt gegen einen Genozid." Die von Israel angeführten Kriegsziele - vor allem die Zerschlagung der Hamas - stellen aus ihrer Sicht keinen Widerspruch dar. Vielmehr machen sie deutlich, dass Israel durchaus mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen könne.
Kathrin Hondl, ARD Genf, tagesschau, 16.09.2025 13:00 UhrHaftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke