Israels Gaza-Offensive lasse sich weder politisch noch militärisch rechtfertigen, sagt Politikwissenschaftler Stephan Stetter im tagesschau24-Interview. Dennoch sei Deutschlands Unterstützung für Israel generell richtig.

tagesschau24: Die Bundesregierung äußert sich deutlich kritisch zur israelischen Offensive im Gazastreifen. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Stephan Stetter: Ja, ich kann die Kritik unbedingt nachvollziehen. Es gibt aus militärischer und auch aus politischer Perspektive keine Gründe für diese Offensive, die jetzt vertretbar wären. Sie gefährdet das Leben der Geiseln. Sie ist aus humanitärer Perspektive nicht nachvollziehbar. Und sie dient auch nicht dem Ziel, die Hamas tatsächlich zu besiegen. Und deswegen kann ich diese Kritik der Bundesregierung und vieler anderer Regierungen weltweit auch sehr gut nachvollziehen.

Stephan Stetter, Politikwissenschaftler Universität der Bundeswehr München, zur Bodenoffensive in Gaza-Stadt

tagesschau24, 16.09.2025 14:00 Uhr

tagesschau24: Aber warum zieht Israel das jetzt so durch?

Stetter: Israel steht innenpolitisch mit einer Regierung da, die in Gaza auch noch weitergehende Ziele verfolgt. Klar ist natürlich - das wird zur Rechtfertigung auch immer herangeführt - dass Israel durch die Hamas bedroht wird. Deswegen gibt es ja auch breite internationale Unterstützung dafür, dass die Hamas besiegt werden muss, dass sie keine Rolle in einem Nachkriegs-Gaza spielen darf.

Aber das muss ein Gaza sein, das auch begehbar ist und in dem es eine politische Zukunft für die Palästinenser gibt. Und das ist eben das Problem, vor dem man hier steht.

Infrastruktur für Flüchtende nicht ausreichend

tagesschau24: Falls sich diese Frage überhaupt so formulieren lässt: Was ist schlimmer für die Zivilbevölkerung? Die massiven Angriffe aus der Luft, die es bisher gab, oder Panzerattacken? Wovor kann man sich vielleicht noch am ehesten in Sicherheit bringen?

Stetter: Ich glaube, da kann man nicht so trennen. Denn nicht nur die humanitäre Lage in Gaza ist dramatisch, sondern auch der Zustand der Infrastruktur. Jetzt zieht Israel auch mit Divisionen in den Gazastreifen. Die Problematik liegt darin, dass es keine politische Lösung gibt und dass die Bevölkerung im Gazastreifen jetzt fliehen muss. Aber die Wege sind verstopft, weil auch die Infrastruktur für die Flüchtlinge im Gazastreifen nicht ausreichend ist.

Gute Gründe für Deutschlands Unterstützung

tagesschau24: Von der Bundesregierung hieß es ja zuletzt, dass Deutschland keine Waffen mehr liefert, die in Gaza eingesetzt werden könnten. Aber können wir, Stand jetzt, sicher sein, dass da nicht gerade mit deutschen Waffen palästinensische Zivilisten getötet werden?

Stetter: Ja, das müsste man im Bundessicherheitsrat besprechen. In der Tat hat die neue Bundesregierung gesagt, dass bestimmte Waffen, die jetzt für die offensive Kriegsführung in Gaza genutzt werden können, nicht geliefert werden. Deutschland liefert ja auch andere Waffen.

Ich finde es auch immer wieder wichtig zu sagen, dass es dafür natürlich Gründe gibt. Israel ist ein enger Verbündeter Deutschlands. Israel wird von vielen Seiten bedroht und das heißt, man sollte Israel auch politisch und militärisch unterstützen.

Aber nicht dort, wo die politischen und militärischen Vorgehensweisen nicht mehr nachvollziehbar sind, so wie jetzt in Gaza. Also U-Boote zum Beispiel, die aus Deutschland geliefert werden, werden jetzt ja nicht eingesetzt. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung das Thema so aufgegriffen hat. Man muss sich auch neue Entwicklungen anschauen, aber man muss es eben auch mit einem politischen und diplomatischen Augenmaß betreiben.

Zur Person Stephan Stetter lehrt internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität der Bundeswehr München. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Themenbereich Konflikte und Gesellschaft im Nahen und Mittleren Osten, mit besonderem Fokus auf Israel und Palästina.

Bundesregierung hat "keine falschen Schritte" gemacht

tagesschau24: Gelingt der Bundesregierung denn aus Ihrer Sicht gerade diese Unterscheidung zwischen einerseits dem Staat Israel, dem Existenzrecht Israels und andererseits dieser Regierung, die von rechtsextremen Kräften unterstützt wird?

Stetter: Ich persönlich bin der Meinung, dass man Israels Vorgehen hier wirklich kritisieren muss. Andererseits muss man international auch sehen, dass sich sehr viel Kritik an Israel richtet, die doch deutlich darüber hinausgeht, nur die israelische Regierung zu kritisieren. Da wird Israel als Land kritisiert und da kann man sehen, dass Israel eben auch Bedrohungen ausgesetzt ist. Hier die Balance zu finden, ist nicht einfach.

Ich glaube, die Bundesregierung hat hier richtige Schritte gemacht. Letztendlich wird es darauf ankommen, im Nahen Osten eine Sicherheitsstruktur zu entwickeln, die tatsächlich Perspektiven bietet für die Palästinenser, aber eben auch für Israel. Und diese Balance zu finden, ist nicht ganz einfach. Ich finde aber, dass die Bundesregierung in den letzten Wochen hier auf jeden Fall keine falschen Schritte gemacht hat.

Auch in Israel kritische Stimmen

tagesschau24: Stichwort Perspektiven: Zerstört Israel nicht gerade mit dieser Bodenoffensive oder auch zuletzt dem Angriff auf Hamas-Mitglieder in Katar genau diese Möglichkeiten?

Stetter: Wir müssen ein differenziertes Bild haben. In Israel gibt es sehr, sehr viel Kritik gegenüber der Regierung. Zum einen aus der Gesellschaft, von Menschen, die sich vor allem um die Geiseln sorgen. Das ist ein Riesenthema in Israel. Und es gibt auch militärische Kritik bis hin in den Generalstab, von Menschen, die dieser Offensive aus militärischer Perspektive sehr kritisch gegenüberstehen.

Es müsste international darum gehen, auch einen Blick darauf zu lenken und anzuerkennen, dass es in Israel zahlreiche politische und auch militärische Kräfte gibt, die durchaus einen anderen Kurs wollen.

Das Problem liegt ja auch ein wenig im Weißen Haus. Denn so wie es aussieht, haben die Vereinigten Staaten keine Stoppschilder aufgestellt. Und deswegen wären Europa und auch die mächtigen arabischen Staaten wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate dazu aufgerufen, hier auch nach Washington zu argumentieren.

Überforderung im Weißen Haus

tagesschau24: Fühlt sich momentan überhaupt irgendjemand zuständig? Es ist relativ wenig aus dem Weißen Haus zu hören. Katar zieht sich auch ein bisschen zurück. Will irgendjemand da noch vermitteln?

Stetter: Ja, Katar hat gesagt, sie würden das weitermachen. Es gibt jetzt widersprüchliche Meldungen dazu, wann US-Präsident Donald Trump davon wusste, dass es vonseiten Israels einen Angriff auf Hamas-Mitglieder in Doha geben würde. Jetzt kamen Berichte, dass Trump das doch schon sehr frühzeitig wusste und das einfach hat laufen lassen.

Ich glaube, das Problem liegt darin, dass man in vielen Konflikten international sehen kann, dass das Weiße Haus entweder überfordert ist oder ideologisch auf einer sehr anderen Linie liegt. Auf jeden Fall keiner, die im Nahen Osten oder auch in Europa - denken wir an die Ukraine - wirklich zu einer dauerhaft friedlichen Lösung führen würde.

Kriegsverbrechen von beiden Seiten

tagesschau24: Der UN-Menschenrechtsrat wirft Israel jetzt ganz aktuell Völkermord in Gaza vor. Aber hat das irgendeine Konsequenz?

Stetter: Der Menschenrechtsrat muss in seiner Zusammensetzung auch kritisch betrachtet werden. Andererseits ist richtig, dass untersucht werden muss, was Israel im Gazastreifen macht. Das sind jetzt Berichte, die vorgelegt wurden. Letzten Endes wird sich das der Internationale Gerichtshof anschauen.

Es wäre sehr vorteilhaft, wenn man sich international tatsächlich ein Bild machen könnte. Wenn Journalisten im Gazastreifen berichten könnten, und auch internationale Organisationen dies untersuchen könnten. Kriegsverbrechen werden hier von beiden Seiten begangen. Auch von der Hamas werden schwere Kriegsverbrechen begangen.

Aber das heißt, eben diese Fragen müssen alle juristisch aufgearbeitet werden. Hierfür gibt es Gerichte. Und ich fände es wichtig, dass diese Aufarbeitung in diesem Rahmen auch durchgeführt wird.

Das Interview führte André Schünke. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert.

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