Tausenden Grönländerinnen wurden in den 60er- und 70er-Jahren gegen ihren Willen eine Spirale eingesetzt - im Auftrag der dänischen Regierung. Heute reist Dänemarks Regierungschefin Frederiksen nach Grönland, um sich zu entschuldigen.

Als Nikkuliinannguaq 15 Jahre alt ist, wird sie ungeplant schwanger. Die Grönländerin möchte das Kind nicht behalten und geht zum Arzt - einem Dänen. Doch der setzt ihr ohne ihr Wissen eine Spirale ein. "Weder der Arzt noch die Krankenschwestern haben mich um Erlaubnis gebeten", erzählt sie uns, als wir sie in Nuuk besuchen. "Später habe ich die Spirale selbst rausgezogen - und lange darüber geschwiegen."

Was der 65-Jährigen als Teenagerin widerfahren ist, beschäftigt sie bis heute. Was sie lange nicht wusste: Vielen Grönländerinnen geht es genau wie ihr. Mehr als 4.000 Frauen und Mädchen setzen Ärzte im Auftrag Dänemarks in den 60er- und 70er-Jahren eine Spirale ein. Mit der Zwangsverhütung wollte Dänemark das Bevölkerungswachstum in der früheren Kolonie begrenzen. Die Begründung: Man könne den Wohlfahrtsstaat sonst nicht mehr finanzieren. Später hieß es: Man wolle die verantwortungslosen Frauen und ihre ungeborenen Kinder nur schützen.

"Weder der Arzt noch die Krankenschwestern haben mich um Erlaubnis gebeten", erklärt die damals 15-jährige Nikkuliinannguaq.

Drastischer Rückgang der Geburtenzahlen

"Die Maßnahme hat zu einem drastischen Rückgang der Geburtenzahlen geführt", erklärt die Historikerin Astrid Nonbo Andersen vom Dänischen Institut für Internationale Studien. "Aber es hat für einige dieser Frauen auch bedeutet, dass sie unfruchtbar wurden und ihr Leben lang große Schmerzen hatten."

Ein dunkles Kapitel in der dänisch-grönländischen Geschichte. Viele Frauen, so auch Nikkuliinannguaq, haben aus Scham nie darüber gesprochen, was ihnen passiert ist. Manche wussten bis vor ein paar Jahren noch nicht einmal, dass das, was sie in ihrem Körper hatten oder haben, eine Spirale ist.

Dann erregt ein Podcast im Dänischen Rundfunk 2022 Aufmerksamkeit: Darin erzählt die Betroffene Naja Lyberth von ihrem Erlebnis als gerade einmal 14-Jährige. "Ich erinnere mich nicht detailliert an den Arzt oder die Krankenschwester", sagt sie damals. "Aber mein Körper erinnert sich. Mein ganzer Unterleib hat sich zusammengezogen."

Nach Naja Lyberth melden sich immer mehr Frauen zu Wort, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Nach Recherchen des Dänischen Rundfunks betraf die Maßnahme rund die Hälfte der grönländischen Frauen im gebärfähigen Alter. Der damalige grönländische Regierungschef Múte B. Egede sprach im vergangenen Jahr im dänischen Fernsehen sogar von einem "Völkermord".

Ein Fall von großer Tragweite

"Das war ein Schock für viele in Grönland und auch in Dänemark, dass das so eine systematische Politik war, und dass man bislang keinen Fokus darauf hatte", sagt die Forscherin Astrid Nonbo Andersen. "Der Fall hat die Beziehung zwischen Dänemark und Grönland verändert und komplizierter gemacht. Weil er so viele Menschen betrifft und so eine große Tragweite hat."

Es ist nicht der einzige Fall, der einen Schatten auf das dänisch-grönländische Verhältnis wirft. Grönland war zwar formell nur bis 1953 dänische Kolonie. Doch bis heute gehört die Insel zum dänischen Königreich und hat erst nach und nach immer mehr Autonomie erlangt. Unmittelbar vor und nach dem offiziellen Ende der Kolonialzeit wollte Dänemark das Land modernisieren - mit teils drastischen Mitteln.

So wurden kurz vor dem Ende der Kolonialzeit 22 grönländische Kinder von ihren Familien getrennt und nach Dänemark geschickt - um sie zu Dänen umzuerziehen. Später sollten die Kinder in ihre Heimat zurückziehen und dort Teil der Elite des Landes werden. Doch viele landeten in Kinderheimen, sahen ihre Familien nie wieder und kämpften mit psychischen Problemen. Aufgearbeitet wurde auch dieser Fall erst vor einigen Jahren. Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen entschuldigte sich bei den noch lebenden sogenannten Experiment-Kindern.

Die Historikerin vom Dänischen Institut für Internationale Studien, Astrid Nonbo Andersen, erklärt, viele Menschen in Grönland und Dänemark waren schockiert als klar wurde, dass hinter der massenhaften Sterilisation der Frauen System steckte.

Zeitpunkt der Entschuldigung überrascht

Nun will sie auch die Opfer der Spiralen-Kampagne um Verzeihung bitten. Dass die Dänen im Umgang mit Grönland in der Vergangenheit viele Fehler gemacht haben - und dass Grönländerinnen und Grönländer in Dänemark auch heute viel zu oft noch ungerecht behandelt und diskriminiert werden - daran herrscht kein Zweifel. In der Beziehung der beiden Länder gibt es noch viel, was der Aufarbeitung bedarf. Die Entschuldigung ist erst der Anfang.

Was viele aber überrascht hat, ist ihr Zeitpunkt. Denn Mette Frederiksen kündigte die Entschuldigung ausgerechnet an dem Tag an, als dänische Medien Ende August über mutmaßliche US-Spionage auf Grönland berichteten. Zufall?

Der dänische Journalist Niels Fastrup glaubt: Frederiksen will Verbundenheit und Annäherung in einer Zeit demonstrieren, in der viele Mächte an Grönland zerren. Allen voran die USA. Als US-Präsident Donald Trump Ende vergangenen Jahres erneut seine Absicht verkündet hatte, Grönland übernehmen zu wollen, hatte das für viel Wirbel gesorgt.

Nutzen die USA die offenen Wunden der Grönländer?

Seitdem ist Dänemark ständig in Sorge, dass Trump und Co. die offenen Wunden der Grönländer und das schwierige Verhältnis zum ehemaligen Kolonialherren ausnutzen könnte, um einen Keil zwischen die beiden Länder zu treiben. "Eins ist klar", sagt Fastrup. "Wenn in Grönland eine große Abneigung gegen die dänische Gesellschaft entsteht, gegen die Gemeinschaft im Königreich, dann könnte so eine anti-dänische Stimmung zu der Forderung führen, dass Grönland schnell komplett unabhängig werden soll." So eine Stimmung könnten die USA ausnutzen, fürchten die Dänen.

Das dürfte Dänemark zusätzlich motiviert haben, an der Beziehung zu Grönland zu arbeiten. Der Grund für die lange erwartete Entschuldigung dürfte es aber nicht sein. Dafür reist Mette Frederiksen zu einer offiziellen Feier extra in die grönländische Hauptstadt Nuuk. Für grönländische Frauen wie Nikkuliinannguaq ist das ein wichtiges Signal. "Es bedeutet viel", sagt sie. "Sie muss sich entschuldigen für das, was wir durchgemacht haben."

Doch die Frauen wünschen sich nicht nur eine Entschuldigung, sondern auch eine finanzielle Entschädigung. Das Geld könne zwar ihren Schmerz nicht ungeschehen machen, aber es sei eine Anerkennung ihres Leides sagen sie. Die dänische Regierung will nun einen sogenannten Versöhnungsfonds einrichten. Wie hoch eine Entschädigung ausfallen wird, weiß noch niemand.

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