Waffen, Taktiken und Technologien haben sich im Krieg in der Ukraine rasant verändert. Hier kann die NATO einiges lernen. Etwa beim Einsatz von Drohnen, die sogar die Arbeit von Sanitätern übernehmen.

In einer versteckten Werkstatt mit Neonlicht, Lötkolben und 3D-Drucker arbeiten mehrere ukrainische Soldaten an der Zukunft der Kriegsführung. Sie reparieren wulstige Antennen, kleben gold-grüne Leiterplatten und inspizieren russische Drohnen.

Die Männer konstruieren keine Waffen, die töten. Sie entwickeln Geräte für die elektronische Kampfführung. Eine unsichtbare, aber inzwischen unverzichtbare Komponente des Kampfes.

Kampf der Frequenzen

Der 51-jährige Ingenieur der Gruppe, Kampfname Wachtang, starrt auf hektische Frequenzwellen auf seinem Laptop. Er trägt ein olivgrünes T-Shirt, Turnschuhe und zeigt auf das Frequenzspektrum auf dem Computerdisplay. Es soll russische Drohnen analysieren. "Wir verwenden dies, um unseren Feind zu studieren, um zu wissen, auf welchen Frequenzen er sendet", erklärt er.

In Werkstätten wie diesen wird in der Ukraine an der Zukunft der Kriegsführung gearbeitet. Unter anderem Geräte zur elektronischen Kriegsführung werden hier repariert.

Sobald klar ist, über welche Frequenz die Drohne ihre Signale erhält, könne sie gestört werden. Mehrere klobige Rucksäcke mit faustdicken Antennen liegen deswegen zur Inspektion in der Werkstatt. Sie enthalten batteriebetriebene Störsender, die die gängigsten Drohnen-Frequenzen abdecken. "Diese Dinger machen die Funkwelle kaputt. Und die Drohnen fallen vom Himmel", sagt Wachtang.

Die Rucksäcke können von Infanteristen zu Fuß getragen werden. Da Soldaten aber auch Munition, Waffen und Proviant schleppen müssen, sei dies nicht bei allen realistisch. Trotzdem sollte jede Gruppe von Soldaten zwei bis drei solcher tragbaren Störsender zum Schutz vor Drohnen immer dabei haben, so Wachtang.

Unverzichtbare elektronische Kriegsführung

Elektronische Kampfführung wird aber nicht nur zur Abwehr von Drohnen eingesetzt. Sondern beispielsweise auch, um die feindliche Kommunikation zu stören, für die elektronische Aufklärung oder den landesweiten Schutz der eigenen Systeme. Wenn etwa die feindliche Satellitennavigation gezielt gestört wird, können feindliche Drohnen und Raketen von ihrem Kurs abkommen.

Dieses Mittel setzt die ukrainische Luftverteidigung auch gegen russische Drohnenschwärme ein. Mit elektronischen Signalen kann aber auch getäuscht, geblendet und getarnt werden, sodass eigene Soldaten selbst effektiver angreifen können. Der elektronische Kampf mit fortlaufenden Innovationen gleicht einem Katz- und Maus-Spiel.

Drohne, das neue Sturmgewehr?

Für den österreichischen Militäranalysten Gustav Gressel haben Soldaten der Bundeswehr und der NATO-Staaten dabei Nachholbedarf. Die elektronische Kampfführung in der NATO sei vor allem "luftgestützt" und "nicht auf so breiter Front" vorgesehen, so Gressel.

Auch werde bei der NATO eher höheren Offizieren die elektronische Kampfführung überlassen, während sich in der Ukraine schon einzelne Drohnenpiloten und Infanteristen damit beschäftigen müssten, wie sie ihre eigenen Signale tarnen.

Deutlich mehr NATO-Einheiten und Waffengattungen, die vorher mit elektronischer Kampfführung "überhaupt nichts zu tun hatten", müssten diese jetzt "wie ihr täglich Brot, wie die Wartung ihres Sturmgewehrs lernen", sagt Gressel.

Seit April ist Deutschland Teil der sogenannten Fähigkeitskoalition Elektromagnetischer Kampf. Dabei helfen neun Partnerländer der Ukraine, elektronisch weiter aufzurüsten. Gleichzeitig hoffen die Länder von den Erfahrungen der Ukraine zu profitieren, beispielsweise im Drohnenkrieg.

Drohnen wie diese haben den Krieg in der Ukraine entscheidend verändert. Die NATO hat hier laut Experten einen großen Nachholbedarf.

Angst vor Drohnen

Wie kaum eine andere Waffengattung prägen Drohnen den Krieg in der Ukraine. Bis vor kurzem hatten kleine, günstig herzustellende FPV-Kamikaze-Modelle nur eine Reichweite von wenigen Kilometern. Inzwischen sind sie auch Dutzende Kilometer hinter der Frontlinie gefürchtet.

Denn nachdem die Ukraine und Russland immer stärkere elektronische Abwehrmittel gegen FPV-Drohnen entwickelt hatten, folgten neue Innovationen: Sogenannte Glasfaser-FPV-Drohnen sind nicht mehr per Signal mit dem Piloten verbunden, sondern durch ein kilometerlanges, hauchdünnes Kabel, das die Drohne abspult. So ist sie kaum rechtzeitig zu orten. Um sich behelfsmäßig zu schützen, spannen ukrainische und russische Soldaten Netze über Straßen, Autos und ganze Checkpoints.

"Es muss nicht immer eine millionenteure Anwendung sein"

"Es sind faktisch alle Waffengattungen enorm betroffen von dieser Drohnen-Kriegsführung", sagt Militärexperte Gressel. Der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass auch ein Panzerangriff nicht mehr so funktioniere, wie es in den Lehrbüchern steht. Insbesondere von der ukrainischen Ausbildung und Zusammenstellung von Drohnenteams könne die NATO lernen, meint Gressel. Ebenso wie von der Koordination von Drohnen- mit Artillerie-oder Panzereinheiten.

Gressel analysiert außerdem, dass die Ukraine bei der Beschaffung von innovativen Waffen einen effektiven "Bottom-up-Ansatz" verfolgt. Einerseits seien Drohnen-Start-Ups massiv staatlich gefördert worden. Andererseits hätten Industrie- und Start-Ups der Armee Entwicklungen bedarfsgerecht angeboten und nicht - wie in NATO-Staaten verbreitet - auf offizielle Aufträge gewartet. "Es muss nicht immer eine millionenteure Anwendung sein", so Gressel.

Tagelang verwundet im Schützengraben

Durch den massenhaften Einsatz von Drohnen sind auch die Einsätze von Estonez gefährlicher und komplexer geworden. Estonez ist Kampfsanitäter bei der ukrainischen Armee. Mit blauen Einweghandschuhen tastet er die nackte Brust eines anderen Soldaten ab. Bei einer Notfallmedizin-Schulung in Druschkiwka, wenige Kilometer hinter der Frontlinie, schult er andere Soldaten.

"Die NATO-Standards funktionieren", sagt Estonez über die Sanitätsarbeit. "Aber nicht in jeder Situation." Denn zum einen sind Drohnenangriffe inzwischen für die meisten Verwundungen verantwortlich. Zum anderen verhindern sie mit gezielten, völkerrechtswidrigen Attacken auf Sanitäter, dass verletzte Soldaten zügig abtransportiert werden können.

Wie lässt sich eine massive Blutung eines verwundeten Kameraden im Schützengraben stillen. Antworten auf diese Frage erhalten die Soldaten bei Übungen wie dieser von Kampfsanitäter Estonez.

In bewaffneten Konflikten, in denen NATO-Armeen zuletzt gekämpft haben, konnten Sanitäter auf eine klare Luftüberlegenheit vertrauen. Schnelle Evakuierungen von Verwundeten mit Hubschraubern in gut ausgestattete Lazarette waren logistisch möglich. In der Ukraine dauert es dagegen oft stunden- oder sogar tagelang, bis verletzte Soldaten in die erste Rettungsstation gebracht werden können.

Das bedeutet, dass es in der Regel reguläre Soldaten sind, die ihre verwundeten Kameraden am Leben halten müssen, bis eine Evakuierung möglich ist. Zunächst müssten dann meist "massive Blutungen" gestoppt werden, schildert Estonez seine Einsätze. Dazu bräuchten sie mehr Ausbildung und mehr medizinisches Equipment im Rucksack. Inzwischen experimentieren manche ukrainische Einheiten sogar mit dem ferngesteuerten Transport von Blutkonserven in die Schützengräben.

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 23.06.2025 17:00 Uhr

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