Rund 100 Millionen Euro hat die EU Tunesien gezahlt, damit von dort nicht mehr so viele Flüchtlinge über das Mittelmeer kommen. Die Idee scheint aufzugehen - zu Lasten von Menschenrechten, sagen Kritiker.

Seit dem Frühjahr haben die tunesischen Behörden mehrere improvisierte Camps nahe der tunesischen Hafenstadt Sfax geräumt - rund 200 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt. In diesen Camps lebten zuvor Tausende Migranten aus Ländern südlich der Sahara - unter Plastikplanen, ohne Toiletten, ohne Trinkwasser.

Einer von ihnen war Omar Cissé aus Mali. "Wenn wir in der Stadt sind, hat man Probleme, hier in diesem Chaos haben wir Probleme", berichtet Cissé. "Wo wollt ihr, dass wir hingehen? Lasst uns gehen! Unser Ziel ist Italien."

Italien und damit Europa zu erreichen, ist für viele nun fast unmöglich geworden. Tunesien soll sie an der gefährlichen Überfahrt hindern - im Auftrag der EU.

100 Millionen Euro von der EU

Knapp 11.000 Geflüchtete und Asylsuchende sind laut der Hilfsorganisation UNHCR derzeit offiziell im Land registriert. Viele von ihnen stammen aus Ländern wie Somalia, Sudan oder Kamerun. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen, da sich viele Menschen gar nicht registrieren lassen.

Vor zwei Jahren unterzeichnete Tunesiens Präsident Kais Saied ein Migrationsabkommen mit der EU. Das Volumen: rund 100 Millionen Euro unter anderem für Grenzkontrollen und Abschiebungen.

Präsident: "Wir weigern uns, ein Transitland zu sein"

Die Agenda des Präsidenten lautete so: "Diese Einwanderung ist eine Vertreibungsaktion und keine gewöhnliche Einwanderung. Sie wird von kriminellen Netzwerken überwacht, die Menschen- und Organhandel betreiben. Wir sind Afrikaner und stolz auf unsere afrikanische Zugehörigkeit. Aber wir weigern uns, ein Transit- oder Siedlungsland zu sein."

Kritische Stimmen sahen in diesem Deal mit der EU in erster Linie ein Ablenken von innenpolitischen Schwierigkeiten. Solche Aussagen würden in der Gesellschaft rassistische Ressentiments schüren, so
der Soziologe Zouheir Ben Jannet von der Universität Sfax.

Forscher: "Die Migranten sind Opfer der Politik"

Ben Jannet hat kürzlich eine umfassende Studie der Nichtregierungsorganisation FTDES zur Situation von Geflüchteten in Tunesien veröffentlicht. Ziel der Studie sei es, von gefährlichen Erzählungen Abstand zu nehmen, in denen etwa von Ansturm, von der Veränderung der demografischen Zusammensetzung der Bevölkerung oder einer internationalen Verschwörung die Rede sei.

"Das hat nichts mit der Realität zu tun. Die Realität ist: Die Migranten sind Opfer der Politik in ihren Herkunftsländern und Opfer einer internationalen Politik, die die Rechte der Völker, die Menschenrechte und das Recht auf Freizügigkeit missachtet", meint Ben Jannet.

Menschenrechtsverletzungen als Folge des Migrationsdeals

Laut EU-Kommission sind im vergangenen Jahr rund 80 Prozent weniger Menschen aus Tunesien in die EU gelangt als im Jahr zuvor. In diesem Sinne ist die Rechnung für die EU aufgegangen.

Doch der Rückgang hat eine Kehrseite: So sind mehrere massive Menschenrechtsverletzungen durch tunesische Sicherheitskräfte dokumentiert - darunter Folter oder das Aussetzen in der Wüste. Laut der aktuellen Studie ist auch das eine Konsequenz der europäischen Migrationspolitik.

Forderung, die Zahlungen einzustellen

"Was Europa derzeit tut, ist nicht nur die Auslagerung seiner Grenzen, sondern auch die Auslagerung der in Wahrheit unmenschlichen Praktiken", sagt Yasmine Akrimi, Politikwissenschaftlerin in Brüssel und Co-Autorin dieser Studie. Eine unmenschliche Politik werde im Interesse der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten ausgelagert - umgesetzt jedoch durch die Hände der Regierungen Nordafrikas.

Die EU hat bereits reagiert: Künftige Zahlungen im Bereich der Migrationsabwehr an Maghreb-Länder wie Tunesien sollen nur noch fließen, wenn Menschenrechte eingehalten werden. Manche fordern sogar, alle Zahlungen einzustellen, bis sich die Menschenrechtssituation verbessert hat.

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