Wie der Krieg in Nahost die Debatte in Deutschland "vergiftet"
- Der Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora kritisiert, dass im Zuge des Nahostkonflikts beide politischen Lager zunehmende versuchen, die Geschichte zu instrumentalisieren.
- Jens-Christian Wager findet, dass Kritik an der israelischen Regierung nicht verschwiegen werden darf.
- Gleichzeitig dürften NS-Verbrechen nicht mit Verweis auf die Situation in Gaza relativiert werden.
Die Kontroversen rund um den israelisch-palästinensischen Konflikt kommen zunehmend in den Gedenkstätten an. Das merke man an Fragen und Kommentaren von Besucherinnen und Besuchern, sagt der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens Christian Wagner, bei MDR KULTUR. Gleichzeitig würden bestimmte Gruppen versuchen, die Geschichte zu instrumentalisieren.

Instrumentalisierung der Geschichte von beiden Seiten
So habe bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald, eine junge Aktivistin aus Spanien am Ende ihrer Rede Israel vorgeworfen, in Palästina einen Völkermord zu begehen. Der Appell sei bei der Veranstaltung deplatziert gewesen, sagt Wagner, weil er "geeignet gewesen ist, die Schoah zu verharmlosen."
Ein anderes Beispiel sei der massive Druck der israelischen Botschaft gewesen, den er, seine Kolleginnen und Kollegen erleben mussten, als es darum ging, die Rede des israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm im Rahmen des Buchenwald-Gedenkens zu verhindern. Man habe ihn "de facto mundtot machen" wollen, so der Historiker Wagner weiter. Beide Beispiele zeigten, wie die Konfliktparteien versuchen, den Gedenkort und die Opfer "für ihre aktuellen politischen Zwecke zu missbrauchen."

Wagner: Kritik am Krieg in Gaza nicht verschweigen
"Mir selbst fehlt die völkerrechtliche Expertise, um das tatsächlich angemessen zu beurteilen, ob im Gazastreifen ein Genozid stattfindet", räumt Wagner ein. Gleichwohl müsse man benennen, dass "israelische Militärs im Gazastreifen Kriegsverbrechen begangen haben und dass das Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen vermutlich auch genozidale Züge" trage.
Dies dürfe nicht "aus Gründen falsch verstandener Staatsräson" verschwiegen werden, findet der langjährige Leiter verschiedener Gedenkeinrichtungen. Es komme allerdings sehr stark darauf an, wie die Kritik geäußert werde. "Auf einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des KZ Buchenwald ist die Rede über den Genozid im Gazastreifen unangemessen", trotzdem sei es wichtig, aktuelles Unrecht nicht auszuklammern.

NS-Verbrechen und Krieg im Nahen Osten nicht gleichsetzen
"Ganz wichtig ist dabei, dass wir immer deutlich machen, dass das Unrecht, für das die israelische Regierung verantwortlich ist, nicht mit den nationalsozialistischen Verbrechen in einen Topf geworfen wird." Das eine Unrecht dürfe nicht mit Verweis auf das andere Verbrechen relativiert oder bagatellisiert werden.
Komplexität verlangt Differenzierung.
Überhaupt werde bei polarisierenden Themen meist viel zu wenig differenziert. "Die ganze Debatte um den Krieg in Nahost ist absolut vergiftet", findet Jens-Christian Wagner. Kritiker der in Teilen rechtsextremen israelischen Regierung würden schnell mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert – eine Erfahrung die er auch persönlich gemacht habe. Gleichzeitig würde man von pro-palästinensischen Stimmen schnell als "Genozid-Leugner" verurteilt werden. "Da nehmen sich beide Seiten nichts."

Polarisierung schadet der sachlichen Debatte
Zwar könne er verstehen, dass angesichts des Leides auf beiden Seiten "die Nerven blank liegen", aber "wenn wir die Debatte versachlichen wollen, dann müssen wir versuchen zu differenzieren." Eine so komplexe Situation wie der Krieg in Nahost könne nicht durch einfache und meinungsstarke Positionen erklärt werden. "Komplexität verlangt Differenzierung", fasst Jens-Christian Wagner zusammen.
Quelle: MDR KULTUR (Thomas Bille); redaktionelle Bearbeitung: tis
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke