Inhalt des Artikels:

  • Ist Leipzig 1989 noch zu retten?
  • Wie erlebten das die "Wende-Kinder"?
  • Der Beginn des Booms
  • Nicht nur Geld, auch ein wenig Größenwahn
  • Der echte Aufschwung und sein Preis

Die neue Dokumentation "Boom Boom Leipzig" geht dieser Frage nach und stellt Leipziger vor, die das aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Liegt es an Leipzigs Ruf als Stadt des Aufbruchs? Oder doch an manch größenwahnsinniger Idee? An der bunten Kunst- und Kulturszene? Oder einfach nur am Geld westdeutscher Investoren?

Ist Leipzig 1989 noch zu retten?

Leipzig ist schon immer eine weltweit bekannte Stadt mit bedeutungsvoller Geschichte. Die Völkerschlacht, das Wirken von Johann Sebastian Bach, die Einzigartigkeit des Gewandhauses, Ort des Messehandels und der friedlichen Revolution. Und gleichzeitig war diese Weltstadt im Herbst 1989 ein schier hoffnungsloser Fall.

Straßenszene vor der WendeBildrechte: MDR

"Ist Leipzig noch zu retten?" fragte damals ein TV-Bericht des DDR-Fernsehens. Besonders für das frühere Industrie-Viertel Leipzig-Plagwitz sahen die damals Verantwortlichen überhaupt keine Zukunft mehr. Dietmar Fischer, der damalige Chef-Architekt der Stadt Leipzig resümierte im November 1989: "In Plagwitz sind die Umweltbedingungen so schlecht, dass es verantwortungslos wäre, das Wohnen dort auf lange Sicht beizubehalten. Das heißt, die Perspektive für die dort wohnenden Menschen, besteht darin, dass in dem Zeitraum nach 1990 Schritt für Schritt, so hart es ist, dieses Gebiet freigezogen werden muss."

An den Zustand erinnert sich besonders intensiv der Leipziger Psychologe Thomas Seyde: "Das hat einen schon erschüttert. Wenn ich heute Bilder sehe von damals, weiß ich gar nicht, warum wir das überhaupt so lange ausgehalten haben. Das ist völlig verrückt. Man beobachtet den Zerfall. Man konnte richtig zugucken, wie es zerfällt."

Flusslauf Elster 1989Bildrechte: MDR

Der Verfall ganzer Viertel und die Existenzsorgen der Leipziger Bevölkerung mündeten kurz nach der Wende in eine schwere Perspektivlosigkeit. Über einen Zeitraum von zehn Jahren verlor Leipzig ein Fünftel seiner Bewohner, etwa 100.000 Menschen.

Wie erlebten das die "Wende-Kinder"?

Die Leipzigerin Elisa Gerbsch ist Jahrgang 1990. Im Laufe der 90er-Jahre spürte sie immer mehr, wie die Eltern-Generation mit den Folgen der Perspektivlosigkeit zu kämpfen hatte. Heute arbeitet die Wirtschafts- und Sozialgeografin an der Hochschule Mittweida und sitzt für Die LINKE im Stadtrat von Leipzig. Damals war sie eine von vielen, die die Arbeitslosigkeit um sich herum hautnah spürten und auch, wie Eltern sich neu finden mussten, die Zukunft als ungewissen und bedrohlich sahen.

"Und ich habe darüber auch viel mit meiner Mutter gesprochen, dass sie meinte, dass Eltern das in den 90er-Jahren nicht so bewusst war, welche Auswirkungen diese Selbstfindungsphase der Eltern in den 90er-Jahren auch auf die Kinder hat. Also das, dass es da nicht dieses Bewusstsein gab, dass Kinder bestimmte Zuwendung brauchen oder auch gefördert werden müssen, dass denen das erklärt werden muss, was hier eigentlich passiert, warum ihre Eltern vielleicht auch gestresst sind, orientierungslos nicht wissen, was passiert."

Dr. Elisa Gerbsch, Stadtforscherin vor ihrer ehemaligen Grundschule im Stadtteil Gohlis-NordBildrechte: SW-Film (Schulz/Wendelmann Film)

Welche Folgen hatten diese Zustände Anfang der 90er-Jahre bezüglich der Stadtentwicklung? Elisa Gerbsch hat sich auch mit dieser Frage beschäftigt und stellt Bezüge zum Heute her. Wer wohnt wo und warum? Welche Trends und Entwicklungen sind in Städten zu erkennen? Als eine Folge von damals sieht sie, dass es noch immer Ungleichheiten im Lohnniveau gibt, obwohl sich die Stadt inzwischen wirtschaftlich nicht mehr verstecken muss.

Der Beginn des Booms

Interessanterweise war Leipzig bei Investoren viel beliebter, als man bei dem Zustand der Stadt 1989 vermutet hätte. Es schien, als wirkte Leipzigs Ruf als "Stadt des Aufbruchs" wie ein Garant für Investitionen. Im Stadtzentrum begann er zu blühen - der Mythos von Leipzig als Boomtown. Der Buchautor Arnold Bartetzky: "Die Realität stand in einem scharfen Gegensatz zur Selbstwahrnehmung und Selbstvermarktung von Leipzig. Die Stadt wurde auch medial gefeiert als die Boomtown des Ostens. Und tatsächlich hat es in der ersten Zeit nach dem Untergang der DDR auch ganz danach ausgesehen. Denn es gab unendlich viele Investoren, die der Stadt die Türen einrannten."

Arnold Bartetzky, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Leipzig Bildrechte: SW-Film (Schulz/Wendelmann Film)

Die Stadt wurde auch medial gefeiert als die Boomtown des Ostens.

Arnold Bartetzky, Buchautor "Die gerettete Stadt"

Tatsächlich wurden allein im Lauf der 90er-Jahre über zehn Milliarden Euro in Sanierung und neue Infrastruktur investiert. Gegen die reale Schrumpfung in Wirtschaft und Bevölkerung, gegen die noch allgegenwärtige Tristesse: Leipzig sollte wachsen, diesmal vor allem als Dienstleistungs-, Medien- und Forschungsstandort. Ein Imagefilm der Stadt von 1995 spricht dann schon davon, dass man sich in altbekannten Gegenden verlaufen könnte, so schnell ändert Leipzig sein Gesicht. Und: nach Shanghai stünden in Leipzig die meisten Kräne weltweit.

Nicht nur Geld, auch ein wenig Größenwahn

Motor dafür waren Investoren, auch Personen, deren Vorgehen sich später als nicht ganz legal herausstellte, wiie zum Beispiel das des Frankfurter Bauunternehmers Jürgen Schneider. In der Leipziger Innenstadt, in die er sich laut eigener Aussage sofort verliebt hatte, erwarb er über 60 Gebäude: zum Beispiel die berühmte Mädler-Passage, den Zentralmessepalast, das Hotel Fürstenhof, Barthels Hof. Und er sanierte sie aufwändig. Sein bundesweites Finanz-Konstrukt entpuppte sich irgendwann als Luftschloss – die Gebäude, in die er in Leipzig investierte, sind allerdings bis heute Vorzeige-Objekte. Für Leipzig sind sie Touristen-Magnete, von denen die Stadt noch immer stark profitiert.

Auch von einem anderen ehrgeizigen Projekt dieser Zeit gibt es noch heute Spuren: ein ausgemustertes Flugzeug, aufgestellt als ein Zeichen von großem Gestaltungswillen auf dem Dach einer der damaligen Immobilien von Manfred Rübesam. Er hatte die Version einer Skyscraper-City nach dem Muster von Manhattan entwickelt, eine riesige Hochhaus-Stadt. In der Leipziger Stadtverwaltung war man nach den Erfahrungen mit Baulöwe Schneider inzwischen allerdings vorsichtiger geworden.

Der Kunsthistoriker Arnold Bartetzky erinnert sich an die Reaktion zu diesen Hochhaus-Träumen: "Irgendwann hat der damalige Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube ihm geschrieben, sinngemäß: Sehr geehrter Herr Rübesam, ich kann Sie nicht daran hindern, solchen Visionen nachzuhängen. Aber bitte, lassen Sie mich nicht länger daran teilhaben."

Der echte Aufschwung und sein Preis

Die Investitionen in den Wohnraum, die Sanierung alter Viertel im Zentrum zog ein weiteres Phänomen nach sich: Für das übergroße Angebot an sanierten Wohnungen fehlten die potenten Abnehmerinnen und Abnehmern, die Mietpreise gingen in den Keller. Für einige Jahre wurde Leipzig zu einem echten Mieterparadies. Und das sprach sich in anderen Ecken des Landes durchaus herum. Die Tatsache, Altbauwohnungen mit Stuck und riesigen Aufgängen günstig bewohnen zu können, war für Mieter wie ein Magnet. Selbst für Studenten. Die Thüringerin Greta Taubert kam Anfang der 2000er-Jahre nach Leipzig. Trotz wirtschaftlicher Flaute übte die Stadt für sie und viele andere junge Leute einen großen Reiz aus, besonders wegen der vielen Freiräume, die sich boten.

Ich hatte den Eindruck, dass sich Menschen aus Westdeutschland hier besonders wohlgefühlt haben.

Autorin Greta Taubert, schreibt über Utopien, Transformation, Subkultur

"Als ich dann hier in Leipzig angefangen habe zu studieren, waren da auch viele Leute aus Westdeutschland. Und die haben letztlich genau das Gleiche gesucht wie ich. Nämlich dieses Unfertige, die Möglichkeit, noch was mitzugestalten. Ich hatte den Eindruck, dass sich Menschen aus Westdeutschland hier besonders wohlgefühlt haben, die sich vielleicht auch ein bisschen nach unordentlichen Gefühlen und unordentlichen Verhältnissen gesehnt haben und vielleicht Freiheit vor Sicherheit gestellt haben", sagt Greta Taubert.

Greta Taubert, BuchautorinBildrechte: SW-Film (Schulz/Wendelmann Film)

Freiheit und Kreativität

Eine fast magische Zeit, in der alles möglich schien und die Menschen wie ein Sog in die Stadt zog. Der Zuwachs der Bevölkerung brachte auch neue Impulse für Kunst und Kultur, Kinos eröffnen, alte Fabrikhallen werden zu Galerien oder Lofts. Brachflächen wie das Jahrtausendfeld bekommen eine gesellschaftliche Bedeutung. Die Stadt traut sich auch zu. eine Olympia-Bewerbung zu stemmen. Der Ausbau des Flughafens, die Ansiedlung neuer großer Firmen und ein Fußball-Club bringen neue Impulse und Geld. Die Stadt erfand sich oftmals neu und gleichzeitig besann sie sich auf die eigenen Stärke. Der Leipzig Boom – ein vielschichtiges Phänomen, das die Doku "Boom Boom Leipzig" kritisch hinterfragt, analysiert und die Menschen zu Wort kommen lässt, die Leipzig liebgewonnen haben.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke