In diesem Artikel geht es unter anderem um psychische Probleme. Sind Sie oder eine Person aus Ihrem Bekanntenkreis betroffen, finden Sie unterhalb Hilfsangebote.

MDR AKTUELL: Frau Ohlbrecht, nach einer aktuelle Befragung der Krankenkasse DAK fühlen sich ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler der fünften bis zehnten Klasse einsam. Wo liegen die Gründe dafür?

Heike Ohlbrecht: Ich würde gerne zunächst über die Datengrundlage sprechen. Wir haben derzeit sehr viele Studien mit sehr unterschiedlichen Aussagen. Uns fehlen aussagekräftige Daten. Was wir wissen ist, dass Einsamkeit kein Erwachsenenphänomen ist, sondern tatsächlich auch im Kindes- und Jugendalter stärker auftritt. Dieses eine Drittel, das sie gerade genannt haben, ist sicherlich eine Spitze im Moment. Wenn wir uns andere repräsentative Daten ansehen, dann sprechen wir von circa 17 Prozent von Schülerinnen und Schülern in Deutschland, die von starken Einsamkeitsgefühlen berichten. Das ist natürlich eine ernstzunehmende Größe. Wir sehen nicht erst seit der Corona-Pandemie einen Anstieg in den Einsamkeitswerten.

Warum das so ist, da gibt es sehr viele unterschiedliche Diskussionen. Die reichen von der zunehmenden Digitalisierung der Lebenswelt bis hin dazu, dass sich die Anforderungen an junge Menschen auch stark geändert haben. Diskutiert wird auch, dass wir mehr Leistungsdruck in der Schule haben, dass sich die Qualität der Familienbeziehungen und der Freundschaftsnetzwerke sehr stark geändert haben.

Sie sprechen die Digitalisierung an. Welche Rolle spielen soziale Netzwerke und der digitale Medienkonsum?

Digitalisierung kann Einsamkeit verstärken, aber auch abmildern. Es ist Risiko und Chance zugleich. Was wir eindeutig wissen ist, dass Digitalisierung ein Risiko darstellt, wenn sich Menschen in den sozialen Netzen verlieren, wenn es einen einen extensiven Medienkonsum gibt. Wenn sie viel Zeit online verbringen und dadurch die tatsächlichen Beziehungen aus dem Blick geraten. Besonders junge Menschen, die viel Zeit online verbringen, berichten teils verstärkt über Einsamkeit. Besonders wenn diese digitalen Kontakte eher auch oberflächlich sind oder gar negativ werden. Wir sprechen ja in letzter Zeit häufiger über Cybermobbing oder Ghosting und dergleichen Phänomene.

Für Kinder und Jugendliche bergen die sozialen Netzwerke Risiken, weil dort sehr stark der soziale Vergleich gefördert wird. Man sieht dann Lebenswelten von anderen, die viel attraktiver sind und dann entstehen Bedürfnisse, die man nicht stillen kann. Es nimmt der Vergleichsdruck zu und auch die soziale Isolation. Das ist die Kehrseite.

Aber es gibt auch Chancen in der Digitalisierung. Wir können Kontakte über lange Distanzen aufrechterhalten. Wir können auch digitale Medien nutzen, gerade wenn es vielleicht schwer fällt in den direkten Kontakt zu treten. Für schüchterne, zurückgezogene Menschen kann das eine Möglichkeit sein oder für Menschen, die in der Mobilität auch eingeschränkt sind. Also es ist nicht so einfach zu sagen, dass die Digitalisierung quasi automatisch in die Einsamkeit führt, sondern es hängt hier ganz stark vom Umgang mit den digitalen Medien ab und hier ist ein differenzierter Blick notwendig.

Welche Auswirkungen hat Einsamkeit für Betroffene?

Die Auswirkungen zeigen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Sie zeigen sich kurz- und langfristig. Sie betreffen unsere Gesundheit, auch die physische Gesundheit. Wir wissen, dass Einsamkeit zu Erkrankungen führt wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber eben auch psychischen Erkrankungen. Es gibt Zusammenhänge zwischen depressivem Verhalten und Einsamkeit oder auch mit Angststörungen. Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen geht fast Hand in Hand mit einer Verschlechterung der Gesundheit, mit der Zunahme von Schlafstörungen, mit so diffusen Symptomen wie Magenschmerzen, Bauchschmerzen, aber auch mit einer geringeren Lebenszufriedenheit.

Einsame Menschen verlieren das Vertrauen in ihre Umwelt, in staatliche Institutionen, in Nachbarschaft.

Einsame Menschen tendieren im Allgemeinen dazu, sich immer stärker zurückzuziehen. Sie verlieren das Vertrauen in ihre Umwelt, in staatliche Institutionen, in Nachbarschaft und auch das Vertrauen darauf, dass da Personen sind, die ihnen Hilfe leisten können. Das ist natürlich ein ganz wichtiger Punkt, wenn so etwas eintritt, dass einsame Menschen das Gefühl verlieren, dass da jemand ist, der zuhört, der versteht.

Gefährdet Einsamkeit unsere Demokratie?

Einsamkeit ist ein ernstzunehmendes Problem auch für die Demokratie, das Institutionenvertrauen, für die Frage, wie wir miteinander zusammenleben wollen. Auf diese Frage müssen wir eine Antwort geben. Vor allem ist Einsamkeit eben kein rein individuelles Problem, sondern es ist auch ein strukturelles Problem. Und deshalb brauchen wir strukturelle Antworten, sprich auch politische Antworten.

Die Bundesregierung hat eine Strategie gegen Einsamkeit ins Leben gerufen, hat ein Kompetenznetzwerk gegründet und unter anderem auch eine digitale Angebotskarte zur Verfügung gestellt, wo Menschen Angebote in ihrer Nähe finden können. Das sind beispielsweise Nachbarschaftstreffs, Begegnungsorte oder ganz gezielt Projekte gegen Einsamkeit. Das sind alles gute und richtige Strategien.

Wir müssen in der Öffentlichkeit auch stärker über Einsamkeit sprechen, dass Einsamkeit eben kein individuelles Problem ist, welches nur ganz wenige Menschen betrifft, sondern wir haben es hier mit einem größeren Phänomen zu tun. Und dieses Phänomen müssen wir auf unterschiedlichen Ebenen bearbeiten, unter anderem beispielsweise auch stark auf kommunaler Ebene. Eine sehr gute Strategie gegen Einsamkeit ist das Schaffen von Begegnungsorten, etwa Grünflächen, wo Kinder und Jugendliche auch unterwegs sein können. Gut ist auch, die Strukturen der Daseinsvorsorge aufrechtzuerhalten, auch im ländlichen Raum.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut und Einsamkeit?

Ja, dieser Zusammenhang ist schon also länger gut belegt, dass Armut und Einsamkeit eng zusammen liegen und eine gute Armutsbekämpfung ist eigentlich auch eine gute Strategie gegen Einsamkeit. Menschen, die in Armut leben, können weniger sozial teilhaben, das ist ganz klar. Sie können weniger in Cafés gehen, kulturelle Einrichtungen und dergleichen nutzen. Armut korrespondiert auch mit sozialem Rückzug, mit sozialer Scham nicht mithalten zu können. Und all solche Dinge befeuern dann natürlich auch eher den Rückzug und Einsamkeitsphänomene.

Was raten Sie einsamen Menschen?

Erst einmal würde ich sagen, Einsamkeit ist kein persönliches Versagen. Es ist kein individuelles Phänomen. Es gibt viele Menschen, die dieses Gefühl teilen und kennen. In der Forschung unterscheiden wir unterschiedliche Formen von Einsamkeit, also situative Einsamkeit, chronische Einsamkeit, episodische Einsamkeit, um einige zu nennen. Und bestimmte Formen von Einsamkeit kennt jeder in seinem Leben. Der Philosoph Odo Marquard sprach auch davon, dass wir eine Einsamkeitsfähigkeit ohnehin alle erlernen müssen. Also es ist etwas, mit dem alle Menschen in ihrem Leben zu tun haben.

Wenn wir über chronische, also anhaltende Einsamkeit sprechen, diesen dauerhaften Schmerz, sich ausgeschlossen zu fühlen, nicht teilhaben zu können: Dann braucht man selbstverständlich Hilfe und hier setzen unterschiedliche Strategien an. Einerseits würde ich auf rein individueller Ebene empfehlen, sich erst mal zu vergegenwärtigen, das ist ein Phänomen, ein menschliches Grundgefühl, was viele kennen. Ich bin nicht alleine. Aber auch zu reflektieren, warum und in welchen Situationen fühle ich mich einsam. Dann sollte man versuchen, auch schrittweise soziale Kontakte aufzubauen.

Wenn immer mehr Menschen darüber berichten, einsam zu sein, dann haben wir es mit einem Strukturproblem zu tun.

Das kann die Strategie der kleinen Schritte sein. Schon kurze Begegnungen, das wissen wir, können das Vertrauen in andere wieder stärken. Dann kann man vielleicht auch digitale Brücken schlagen, indem man sich bestimmte Netzwerke sucht. Dann gibt es Strategien, um die psychische Gesundheit zu stärken, so etwas wie Achtsamkeit und Entspannung. Aber vor allem natürlich kann man sich auch professionelle Unterstützung suchen und gesellschaftliche Angebote nutzen.

Ich bin ja Soziologin und keine Psychologin. Psychologinnen können sicherlich noch andere Hinweise geben. Ich möchte aber noch einmal darauf hinweisen, dass Einsamkeit kein persönliches Schicksal ist, sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Und wenn immer mehr Menschen darüber berichten, einsam zu sein, dann haben wir es mit einem Strukturproblem zu tun. So ähnlich wie wir auch Armut und Arbeitslosigkeit als strukturelle Probleme sehen. Und daher kann der Einzelne an seiner Situation arbeiten und dort sicherlich auch eine Verbesserung herbeiführen. Wir brauchen aber insgesamt Strategien auf unterschiedlichen Ebenen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Hilfsangebote bei Einsamkeit

Leiden Sie selbst oder ein Angehöriger unter Einsamkeit oder anderen psychischen Problemen? Dann finden Sie hier Unterstützung

Kinder- und Jugendtelefon des Vereins "
Nummer gegen Kummer": 116 111
Beratung für Eltern: 0800 111 0 55

Die Telefonseelsorge erreichen Sie jederzeit kostenlos unter:
0 800 111 0 111
0 800 111 0 222
0 800 116 123
Weitere
Informationen zum Thema Einsamkeit finden Sie ebenfalls auf der Internetseite der Telefonseelsorge.

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