Lehrermangel und Unterrichtsausfall lösen sich auch mit weniger Schülern nicht
- Die Schule von morgen muss flexibler, kollaborativer und besser auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten sein.
- Das deutsche Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen, insbesondere im Osten.
- Der Lehrermangel bleibt ein großes Problem, das auch der Rückgang der Schülerzahlen nicht lindern kann.
"Schule muss sich neu erfinden". Das sagt Roger Spindler. Der Schweizer macht sich für das renommierte Zukunftsinstitut in Frankfurt Gedanken über die Schule von morgen. Und die, davon ist er überzeugt, wird flexibler, kollaborativer, individueller sein. Er spricht von Wissen und Wissenskultur als einem Megatrend, der sich aber in einem grundlegenden Transformationsprozess befindet. "Wie entsteht Wissen in einer vernetzten Welt? Wissen und Lernen wird digitaler, es wird offener. Wissen ist heute nicht mehr nur Macht. Es ist Verbindung, es ist Teilhabe, es ist Zukunftskompetenz".
Die Questenbergschule in Meißen etwa hat das verstanden. Nicht umsonst ist die Schule für den deutschen Schulpreis nominiert. Auf dem Questenberg hat man viele Hebel in Bewegung gesetzt, um Lehrer zu entlasten und Kinder nach ihrem jeweiligen Niveau besser zu fördern. Es gibt beispielsweise keinen Stundenplan, Klassenunterricht bei nur einer Lehrkraft und Noten nur in den Kernfächern. Das ist möglich, weil sich die Schule vom klassischen Lehrplan lösen durfte. Ob sie als Modellschule weitermachen darf, liegt in den Händen des Kultusministeriums. Kurzum: Die Questenbergschule ist eine Ausnahme von der Regel – denn: Erfolgsmeldungen aus dem Bildungsbereich sind nicht die Regel.
Lehrkräftemangel eine von vielen Herausforderungen
Wir haben uns gewöhnt an die schlechten Nachrichten aus dem Bildungsbereich. Mal ist es die neue Pisa-Studie, die den deutschen Schulkindern ein nächstes schlechtes Zeugnis ausstellt. Mal ist es der Lehrkräftemangel, den die Kultusminister ein weiteres Jahr nicht in den Griff bekommen haben. Diese und viele andere Probleme sind bekannt. Aber sie verschärfen sich. Das deutsche Schulsystem steht an gleich mehreren Wendepunkten, die die Schule von morgen prägen werden – und von denen einige besonders den Osten vor große Probleme stellen.
Die Situation auf dem Lehrkräftemarkt ist einer dieser Wendepunkte. In den kommenden Jahren verabschieden sich die Babyboomer-Jahrgänge aus dem Lehrbetrieb. In ihrer Modellrechnung vom Februar geht die Kultusministerkonferenz (KMK) davon aus, dass bundesweit bis 2035 rein rechnerisch etwa 50.000 Lehrkräfte weniger zur Verfügung stehen als tatsächlich gebraucht werden. Andere Prognosen sind pessimistischer.
Die Zahlen der Kultusministerkonferenz sind zum Teil sogar unseriös.
Die des Bildungsforschers Klaus Klemm etwa, der mit gut 50 Prozent mehr zu besetzenden Stellen rechnet. Die KMK gehe von zu hohen Nachwuchszahlen aus, kritisiert Klemm. "Die Nachrückerzahlen sind bei der Kultusministerkonferenz für mich nicht nachvollziehbar, zum Teil sogar unseriös", so Klemm. Fest stehe, dass es in Deutschland noch einige Jahre zu wenige Lehrer geben werde. Nicht im Grundschul- und Gymnasialbereich, wohl aber in fast allen anderen Schulformen.
Schülerzahlen im Osten sinken drastisch
Und das, obwohl die Schülerzahlen kräftig zusammenschrumpfen. "Wir haben bundesweit von 2021 bis heute etwa 160.000 Kinder, die weniger geboren wurden", rechnet Klemm vor. Man müsse kein Mathematiker sein, um zu erkennen, dass die ausgebliebenen Geburten zu weniger Erstklässlern führten. Dieser Geburtenrückgang markiert laut Klemm eine Trendwende, die in jeder Statistik nachprüfbar sei. Die Prognose der Kultusminister zum Lehrerbedarf gehe zwar auch von sinkenden Zahlen aus, arbeite aber noch mit Werten etwa auf dem Niveau von 2021.
Klemms Prognosen lassen für den Osten wenig Gutes erahnen. So könnte die Zahl der Grundschulkinder in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bis 2035 um bis zu 40 Prozent sinken, vor allem die ländlichen Regionen wären betroffen. Will man dort Schulschließungen verhindern, müssen Lösungen gefunden werden. Der Anspruch sei natürlich "kurze Wege für kurze Beine", sagt Kathrin Vitzthum, Thüringer Landeschefin der Bildungsgewerkschaft GEW. "Das wird aber nicht überall funktionieren und die Debatte über das Thema muss man eigentlich tatsächlich heute beginnen."
Es fehlt an Initiative mit Blick auf den demografischen Wandel
Schon jetzt diskutiere man im Freistaat darüber, Kindergärten zu schließen. Das werde dramatisch werden, so Vitzthum. "Und natürlich hat das Auswirkungen auf die Anzahl von Schulen, die es geben wird". Ganz zu schweigen von der Attraktivität kleinerer Orte. Thüringen ergeht es hier ähnlich wie den mitteldeutschen Nachbarn Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Bildungsminister der drei Länder hatten deswegen zuletzt erklärt, sich künftig intensiver austauschen zu wollen. Laut Gewerkschafterin Vitzthum tut sich bislang aber zu wenig. Niemand wolle diese Debatte führen.
Wir sprechen nicht zukunftsorientiert darüber
Hört man sich unter Bildungsforschern um, könnte man diesen Befund auf die Debatte zur Zukunft des gesamten Schulsystems übertragen. Das mag auf den ersten Blick verwundern, weil so viel über Bildung gesprochen und berichtet wird. Auch Kai Maaz, Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), spricht von einer paradoxen Situation. Alle hätten das System durchlaufen, deswegen sei jeder in irgendeiner Form sprechfähig. "Aber wir sprechen eben nicht evidenzbasiert darüber, wir sprechen nicht perspektivisch darüber, wir sprechen nicht wissenschaftlich fundiert darüber, wir sprechen nicht zukunftsorientiert darüber", so Maaz.
Nötig sei ein strukturierter Prozess. Als Mitglied der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission berät Maaz die Kultusministerkonferenz und hat die deutsche Bildungslandschaft im Blick wie wenige andere. Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung vermisst auch er Initiativen, sich proaktiv mit dem Problem auseinanderzusetzen. In den vergangenen 25 Jahren sei zwar viel im Bildungssystem passiert, so Maaz. "Aber in aller Regel war das ein Reagieren der Bildungspolitik entweder auf negative Befunde der Bildungsforschung oder aber man auf Dinge wie Corona oder Fluchtbewegungen reagiert."
Schulen sind digitaler geworden
Maaz wirbt dafür, über mehr digitale oder hybride Ansätze in der Schule nachzudenken, dass also etwa der klassische Unterricht in der Klasse durch den Einsatz von digitaler Technik ergänzt wird. Er verweist auf die skandinavischen Länder, die in dieser Hinsicht deutlich weiter sind als Deutschland. "Das ist alles kein Teufelswerk. Man muss aber damit anfangen", fordert Maaz.
Dabei hat sich gerade bei der Digitalisierung vieles getan. Durch den Digitalpakt sind Milliarden Euro in die Schulen geflossen, die nun weitgehend an schnelles Internet angeschlossen und mit digitalen Tafeln, Laptops und Tablets ausgestattet sind. Und natürlich sind die Bildungsministerien bestrebt, etwa dem Lehrkräftemangel zu begegnen. Das reicht von Reformansätzen für die Lehrkräfteausbildung über Anwerbeprogramme für Quer- und Seiteneinsteiger bis hin zu angepassten Unterrichtsmodellen. Sachsen etwa führt 15 Stunden digital gestütztes Selbstlernen für die Schüler an Oberschulen und Gymnasien ein, in Sachsen-Anhalt und Thüringen werden Modelle erprobt, Schulkinder einen Tag pro Woche in Unternehmen Erfahrungen sammeln zu lassen.
Bildungsforscher: Schulleiter sollten mehr eigenverantwortlich entscheiden
Die Ministerien sind darum bemüht, den strategischen Modellcharakter solcher Ansätze zu betonen. Viele Kritiker sehen darin aber nur Kosmetik. Einer dieser Kritiker ist Dieter Dohmen, Bildungsforscher und Direktor des FiBS-Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie.
Das funktioniert überhaupt nicht
Solche Konzepte seien "Flickwerk", sagt Dohmen. Sie offenbarten einen entscheidenden Grundfehler: "Wir glauben, dass wir aus den Ministerien heraus bestimmte Vorgaben erlassen können, an denen sich die Schulen zu orientieren haben. Das funktioniert aber doch überhaupt nicht". Gymnasien hätten ganz andere Voraussetzungen als Mittelschulen, Realschulen oder Gemeinschaftsschulen. Jede Schule sei unterschiedlich. Dohmen spricht sich dafür aus, Schulleitungen verstärkt eigenverantwortlich arbeiten zu lassen, ihnen mehr Freiheit zu geben. Ein Standpunkt, der in der Bildungsforschung viele Anhänger hat – und nicht nur dort.
Auch Sachsen-Anhalts Bildungsminister Jan Riedel ermutigt die Schulen, mehr Eigeninitiative zu übernehmen. Zwar müsse das staatliche Schulwesen lernen, Freiräume zu entwickeln, so Riedel zuletzt im ARD-Talkformat "Mitreden! Deutschland diskutiert". Allerdings böten die Lehrpläne auch jetzt schon genug Spielraum, um etwa Lerngruppen individuell zu betrachten.
Riedel weiß, wovon er spricht. Er war zuletzt Schulleiter des für den deutschen Schulpreis nominierten Lyonel-Feininger-Gymnasiums in Halle. "Es ist nicht immer nur eine Frage, wie die Pläne aussehen, wie die Ressourcen sind. Wir, die Schulen und Lehrer, müssen uns auch innerlich verändern", so Riedel. Das lasse sich aber schwer von oben verordnen. Fakt ist aber auch: Schulleitungen fehlen oft die Kapazitäten oder es fehlt gleich ganz am Führungspersonal. In den drei mitteldeutschen Ländern sind hunderte Leitungsposten unbesetzt, viele Schulleitungen beklagen Überlastung.
Was Bildungsexperten Hoffnung macht
So ernüchternd das alles klingt – die Bildungsexperten glauben dennoch, dass sich das Schulsystem bewegt. Er halte die Situation noch nicht für dramatisch, sagt etwa DIPF-Chef Kai Maaz. Das System werde sich verändern. "Man sollte nicht desillusioniert sein, sondern es als Herausforderung sehen. Es sind auch dicke Bretter, die zu bohren sind, aber es gibt Entwicklungen, die machen Hoffnung". Als Beispiel nennt er das Startchancen-Programm, dessen Koordinator er ist. Das mit 20 Milliarden Euro über zehn Jahre geförderte Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppeln und für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.
Rund 4.000 Schulen bundesweit werden unterstützt, darunter auch die Questenbergschule in Meißen. Bildungsforscher Klaus Klemm erwartet, dass der öffentliche Druck früher oder später Reformen in Gang setzen wird. Und auch Zukunftsforscher Roger Spindler glaubt, dass die nötigen Anpassungen möglich sind. Der Wunsch nach Veränderung sei spürbar in der Schullandschaft. Aber dafür brauche es Kreativität, den nötigen Freiraum für die Schulen und den "Mut, die Rahmenbedingungen zu hinterfragen".
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