Nach dem Fall der Mauer 1989 rechneten viele mit einer Massenabwanderung gen Westen. Bessere Löhne, mehr Jobsicherheit, bessere Aussichten – vieles sprach dafür. Tatsächlich zogen in den Jahren 1989 und 1990 jeweils knapp 400.000 Ostdeutsche in die alten Bundesländer. Doch schon ab 1991 brach die Welle ein. In den Jahren 1992 bis 2005 verließen nur 3,6 Prozent der entlassenen Arbeitnehmer dauerhaft den Osten – 96,4 Prozent blieben.

Eine neue Studie der Rockwool Foundation Berlin erklärt dieses Phänomen mit einem doppelten Mechanismus: Netzwerke aus Kollegen aus DDR-Zeiten waren für manche die Brücke in den Westen – und für viele andere der Anker im Osten.

Einzigartige Daten über Millionen Arbeitsbiografien

Für ihre Analyse verknüpften die Forscherinnen und Forscher die sogenannten GAV-Daten (Datenspeicher "Gesellschaftliches Arbeitsvermögen") der DDR aus dem Jahr 1989 mit den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbiografien in Gesamtdeutschland ab 1992. Im GAV waren rund sieben Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfasst – fast die gesamte Erwerbsbevölkerung der DDR.

Damit ließ sich für jeden Beschäftigten rekonstruieren: In welchem Betrieb und in welchem Beruf arbeitete er oder sie 1989? Und: Wie verlief die berufliche Laufbahn zwischen 1992 und 2005, nachdem Betriebe geschlossen und Arbeitsplätze massenhaft verschwunden waren?

Wichtiger Aspekt dabei: In der DDR wurden Arbeitsplätze zentral zugeteilt. Wer 1989 Kollege war, war dies nicht unbedingt aus freier Wahl, sondern durch staatliche Planung. Das macht die so entstandenen Netzwerke aus Sicht der Wissenschaft quasi-zufällig – ein Glücksfall für eine saubere Analyse.

Ostdeutsches Netzwerk als Brücke in den Westen

Die Auswertung zeigt: Wer bei einer Betriebsschließung arbeitslos wurde und einen ehemaligen Kollegen im Westen hatte, wechselte mit rund sechs Prozent höherer Wahrscheinlichkeit selbst dorthin. "Der Effekt wurde speziell durch ehemalige Kollegen aus dem gleichen Berufsfeld verursacht", sagt Studien-Mitautorin Alexandra Spitz-Oener, "nicht durch allgemeine Kontakte am Arbeitsplatz oder durch Nachbarn."

Diese Kollegen dienten als Informationsquelle: Sie konnten glaubwürdig berichten, wie der Arbeitsalltag im Westen aussah, ob die Qualifikationen zählten, wie die Bedingungen in der Fabrik oder im Büro waren. So reduzierten sie die Unsicherheit. Wer mehrere West-Kontakte hatte, orientierte sich zudem eher an jenen, die in besonders guten Betrieben oder Regionen arbeiteten.

Ostdeutsches Netzwerk als Anker im Osten

Doch Netzwerke erklärten auch, warum so viele im Osten blieben. In der DDR war der Betrieb das Zentrum des Lebens: mit Kantine, Kinderbetreuung, Sportvereinen, Ferienlagern. Die Kollegenschaft war nicht nur Arbeitsumfeld, sondern oft Freundeskreis oder sogar "Familie auf Zeit".

Michelle Hansch, Erstautorin der Studie, betont: "Entlassene Arbeitnehmer können strategische Standortentscheidungen treffen, wobei sie die spezifischen Merkmale ihrer ehemaligen Kollegen und die Qualität der Beschäftigungsmöglichkeiten am Zielort berücksichtigen." Genau dieses Abwägen führte bei vielen dazu, dass der Anker im Osten stärker wirkte als die Aussicht auf bessere Löhne.

Warum die große Abwanderung ausblieb

So erklärt sich, warum trotz zwölf Prozent höherer Reallöhne und stabilerer Beschäftigung im Westen keine echte Massenabwanderung stattfand. "Dieses Muster mag überraschend erscheinen", sagt Alexandra Spitz-Oener, "da die ehemaligen DDR-Bürger Zugang zum gesamten deutschen Arbeitsmarkt hatten und im Vergleich zur internationalen Migration keine sprachlichen oder kulturellen Barrieren bestanden. Außerdem waren die Reallöhne im Westen um etwa 12 Prozent höher und die Arbeitsplatzsicherheit war ebenfalls größer."

Viele Ostdeutsche wollten wohl einfach zu Hause bleiben. Wenn schon Arbeitswechsel, dann lieber innerhalb des Ostens, zeigt die Studie: Demnach war Wechsel in den Westen nur ein Zwanzigstel so wahrscheinlich wie ein Wechsel innerhalb der alten Heimat. Die frühere Grenze wirkte also weiterhin als massive unsichtbare Barriere, selbst Jahre nach der Wiedervereinigung. Wahrscheinlich fürchteten viele auch einfach, im Westen keine Chance zu haben. Alte Kollegen konnten diese Unsicherheit bei manchen mindern, doch bei weitem nicht alle verfügten über solche Kontakte.

Netzwerke als Entscheider über Mobilität und Migration

Die Ergebnisse machen deutlich: Migration ist nie nur eine ökonomische Entscheidung, sondern auch eine zutiefst soziale. In den frühen 1990er-Jahren entschieden Netzwerke darüber, wer ging und wer blieb. Für die einen waren sie Brücke, für die anderen Anker. Oder wie es Co-Autor Jan Sebastian Nimczik ausdrückt: "Dies ist der erste ursächliche Beweis dafür, dass ehemalige Kollegen eine entscheidende Rolle bei Mobilitätsentscheidungen während großflächiger wirtschaftlicher Umbrüche spielen."

Im digitalen Zeitalter übernehmen oft Empfehlungssysteme und Algorithmen die Rolle, die früher Kollegen spielten: Sie versuchen, Orientierung in unsicheren Zeiten zu geben. Doch die Studie zeigt, dass Vertrauen in echte Menschen unersetzlich bleibt – und dass Netzwerke wohl auch künftig über Wege und Wurzeln entscheiden dürften.

Links / Studien

M. Hansch et al. (2025): "Workplace Connections and Labor Migration" (PDF in englischer Sprache)

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