• Der dritte Teil der "Wut"-Trilogie führt nach NRW, wo die Menschen auch Transformationserfahrungen haben.
  • Die Film-Macher waren der Meinung, es sei Zeit, die "anderen Deutschen" nach ihrer Geschichte zu fragen.
  • Im ehemals "goldenem" Westen trafen sie auf soziale Brennpunkte, Wut und das Gefühl des Abgehängt-Seins.

Dokumentationen über den Osten gibt es viele: Zu jedem Jubiläum des Mauerfalls oder der Deutschen Einheit werden es mehr. Meist kommen dann prominente Journalistinnen oder Journalisten aus dem Westen zu Besuch und schauen, ob sich bestätigt, was sie sich vorgestellt hatten. Besonders gerne schauen sie dahin, wo es weh tut. Der "rechte Osten" ist ein beliebtes Motiv, eine Art "Dschungelprüfung" nannte es der Leipziger Journalist und Podcaster Christian Bollert im zweiten Teil der Doku-Reihe, "Wut. Die Reise geht weiter". Natürlich sind diese Befunde über den Osten nicht falsch, aber sind sie das ganze Bild?

Transformation in NRW – vergleichbar mit DDR?

Um das rauszufinden, wollten wir den Spieß umzudrehen: Die Idee zu "Wut. Jetzt fahren wir in den Westen" klang anfangs wie ein Schelmenstreich: auf ins "rechte Gelsenkirchen", sozusagen. Daraus geworden ist ein sehr persönlicher Film, der den Blick eher weiten als verengen sollte, eine Wiederbegegnung, eine neugierige Erkundung.

Industrieabbau und Kohleausstieg erleben die Menschen an Rhein und Ruhr seit Jahrzehnten, man rühmt sich für die Transformation.

Matthias Schmidt, Film-AutorAutor "Wut. Jetzt fahren wir in den Westen"

Sie führte nach Nordrhein-Westfalen. Erstens, weil das ja eigentlich der äußerste Westen ist. Zweitens aber auch, weil NRW in gewisser Weise mit dem Osten vergleichbar ist. Das bevölkerungsreichste Bundesland hat in etwa so viele Einwohner wie einst die DDR. Industrieabbau und Kohleausstieg erleben die Menschen an Rhein und Ruhr seit Jahrzehnten, man rühmt sich für die "Transformation".

Was also würde geschehen, stellte man den Menschen im Ruhrgebiet, aber auch in Düsseldorf, Bonn oder im Sauerland die Fragen, die sonst hier im Osten gestellt werden? Was treibt Sie um, was macht Sie wütend?

In Lüdenscheid ist die nach der Sprengung einer baufälligen Brücke gesperrte "Königin der Autobahnen" ein Grund zur Wut.Bildrechte: IMAGO / Hans Blossey

"Die anderen Deutschen" nach ihrer Geschichte fragen

Der erste Befund stand schnell fest: Alle, die wir im Westen fragten, fanden die Idee des Perspektivwechsels nicht nur logisch, sondern sogar gut und waren schnell im Gespräch mit uns. Kann es sein, dass wir unsere DDR-Geschichten, die ernsten und die fröhlichen, sowie unsere Umbruchserfahrungen so gerne erzählen, dass wir vergessen haben, die anderen Deutschen nach ihren Geschichten zu fragen?

Die Doku "Wut. Jetzt fahren wir in den Westen" fragt die Menschen nach ihren Erfahrungen, nach ihrem Kummer, aber auch danach, wie sie zur Deutschen Einheit stehen. Waren sie schon im Osten? Können Sie sich erinnern, was Sie am 9. November 1989 gemacht haben, dem Tag des Mauerfalls? Welche Menschen aber soll man fragen, wo anfangen, wo aufhören?

Kann es sein, dass wir vergessen haben, die Deutschen im Westen nach ihren Geschichten zu fragen?

Matthias Schmidt, Film-Autor

Am besten mitten hinein ins wirkliche Leben, zum Beispiel in eine Kneipe. Uwe Ziebuhr, der Wirt einer der letzten alten Kneipen von Wattenscheid, erzählt von den Veränderungen seiner Heimatstadt, die seit 50 Jahren ein Stadtteil von Bochum ist. Eine Wunde übrigens, die immer noch nicht verheilt ist, so wie viele Menschen im Osten die mehrfachen Kommunal- und Kreisgebietsreformen auch als Heimatverlust erlebt haben.

Uwe Ziebuhr, der Wirt einer der letzten alten Kneipen von Wattenscheid, erzählt von den Veränderungen seiner Heimatstadt.Bildrechte: SAVIDAS Film

Abgehängt in Wattenscheid: wie Ostdeutsche nach Wiedervereinigung

Wattenscheid ist sozialer Brennpunkt. Doch seit "WAT" als Nummernschild wieder erlaubt ist, wollen tausende es haben. Blühende Landschaften sucht man hier vergebens und der einheimische Fußballverein, Wattenscheid 09, einst Bundesligist, spielt heute in der Oberliga Westfalen. Viele hier, sagt Ziebuhr, fühlten sich heute so abgehängt, wie es nach der Wiedervereinigung die Ostdeutschen taten.

Der Schriftsteller Gregor Sander weiß, was der Abstieg von Schalke 04 für Gelsenkirchen bedeutete.Bildrechte: SAVIDAS Film

Apropos Fußball: Der Schriftsteller Gregor Sander ("Lenin auf Schalke") schildert im Film, wie er miterlebte, als Schalke 04 in die 2. Bundesliga abstieg. Gelsenkirchen – heute ein von viel Armut und vielen – ja, man muss es so nennen – heruntergekommenen Stadtteilen geprägter Ort – verlor damit das letzte, was noch erstklassig war, sagt Sander. Ein Bergmann schildert uns voller Wehmut, dass er Gelsenkirchen noch vor 20, 30 Jahren als eine blühende Stadt erlebte.

Doku "Wut" erkundet Missstände und den "goldenen" Westen

Wut über Missstände haben wir vielerorts gespürt, aber bis auf diejenigen, die darüber vor der Kamera nicht sprechen wollten (auch darin sind wir ein Volk), haben wir eine Gesellschaft vorgefunden, die weniger impulsiv reagiert als viele im Osten. Uwe Ziebuhr zum Beispiel, der Wirt aus Wattenscheid, versucht es mit Ruhrpott-Humor. "Ich hatte mal einen Ostdeutschen hier", sagt er, "Der fragte: 'Was habt ihr hier eigentlich in den letzten 35 Jahren gemacht?'"

Der ostdeutsche Soziologe Raj Kollmorgen begründet das mit der bereits Jahrzehnte langen Erfahrung der Gesellschaft mit Veränderungen wie beispielsweise der Zuwanderung.

Der ostdeutsche Soziologe Raj Kollmorgen ist Experte für die Veränderungen in einer Gesellschaft.Bildrechte: SAVIDAS Film

Auf der Suche nach dem alten, dem "goldenen" Westen besuchen wir einen der nobelsten Tennisclubs von NRW, den Rochus-Club in Düsseldorf. Auf der "KÖ", der teuren Flaniermeile der Landeshauptstadt, fährt eine Protest-Demo durchs Bild und wirkt im Umfeld der teuren Autos und Designer-Shops beinahe wie ein Karnevalsumzug.

Wünschenswert: Mehr Interesse aus dem Osten für den Westen

In Lüdenscheid ist nicht nur die nach der Sprengung einer baufälligen Brücke gesperrte "Königin der Autobahnen" Grund zur Wut, ebenso sind es die vielen leer stehenden Geschäfte in der Fußgängerzone. Da sieht es teilweise nicht viel besser aus als in mitteldeutschen Städten. Was der Film noch zeigt? In Duisburg gibt es einen Rheinstrand, an dem Baden verboten ist, an der Ruhr bei Witten ist es einfach wunderschön, und überhaupt sollten wir uns einfach mehr für den Westen interessieren.

Quelle: MDR KULTUR (Matthias Schmidt)
Redaktionelle Bearbeitung: jb

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