Inhalt des Artikels:

  • Mehr als nur Protest
  • Demokratie wird bejaht
  • Der Osten in den Medien
  • Zukunft in Ostdeutschland

Man kann lange nach dem Ende der DDR geboren sein, und trotzdem mit einem ostdeutschen Blick auf die Welt schauen. Hannah Abdullah, geboren im Jahr 2000 aus Halle an der Saale, hat durch ihre Familie gelernt, in Kategorien von Ost und West zu denken.

Aus dem Impuls, die eigene Ost-Identität gegen Negativzuschreibungen zu verteidigen, wird für einige auch ein Kampf um eine Positivbesetzung. Jakob Springfeld ist 2002 geboren, mehr als ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung. Als Teenager gründet er in Zwickau eine Ortsgruppe der Klimabewegung "Fridays for future". Für ihn ist Ostdeutschsein kein Gefühl, sondern ein politisches Statement, das er nicht von Rechtsextremen besetzen und wegnehmen lassen will.

Mehr als nur Protest

Junge Engagierte wie Jakob Springfeld kritisieren, dass es häufig nur um Wahlergebnisse gehe, wenn über Ostdeutschland gesprochen wird. Sobald bei den Hochrechnungen die blauen Balken der AfD wieder wachsen, wird analysiert und gerätselt: Was läuft falsch im Osten?

1990 kam die Demokratie als große Verheißung. Doch viele Ostdeutsche erlebten, wie alte Institutionen, Betriebe und Arbeitsplätze verschwanden. Viele hatten das Gefühl, dass sie kaum etwas dagegen tun konnten.

Demokratie an sich, das zeigen die Umfragen, wird auch im Osten grundsätzlich bejaht. Viele Ostdeutsche haben sich 1989 buchstäblich erkämpft – ohne Gewalt und unter dem Risiko, mit ihrem Leben dafür zu bezahlen. Doch während an Runden Tischen noch über die Zutaten einer neuen DDR-Demokratie verhandelt wurde, kam die Demokratie für die Masse quasi als Fertigpizza aus dem Westen: Ding, Dong, der Lieferservice ist da!

Demokratie wird bejaht

Es gibt keine Patentrezepte nach Jahrzehnten der Diktatur und der Misswirtschaft. Doch auf die Dynamik von 1989, getragen durch lokale Initiativen in politischer Selbstermächtigung, folgt die Selbstentmachtung, so schreibt es der Soziologe Steffen Mau. Er nennt das "ausgebremste Demokratie". Denn die Prinzipien der Demokratie seien von der Bundesrepublik in wenigen Monaten auf Ostdeutschland übertragen worden. Dabei gibt es bis heute eigene politische Kulturen, sagt der Sozialforscher Daniel Kubiak.

Daniel Kubiak, geboren 1982 in Ostberlin, forscht zur ostdeutschen Identität. Für ihn sind die Wahlergebnisse der AfD nicht nur Vorboten für Wahlergebnisse im Westen, vielmehr gebe es schon lange auch im Westen erfolgreiche rechte Parteien. Doch das bliebe mit dem verengten Fokus auf den vermeintlich rechten Osten ein blinder Fleck. Kubiak und viele andere sind der Meinung, dass aus dem Blick gerate, dass eine Mehrheit im Osten die Demokratie in Deutschland und ihre Institutionen sehr wohl unterstütze.

Allerdings ist im Osten auch das Misstrauen besonders groß. Schon 1990 ist es da – als Erbe der DDR – dann ist es langsam weitergewachsen. Studien belegen, dass Ostdeutsche bis heute weniger Vertrauen in Parlamente, Regierungen und Medien haben. Grit Lemke hat 1989 in Leipzig studiert und später über 20 Jahre für das Dokumentarfilmfestival DOK Leipzig gearbeitet.

Im Osten zeigt sich vielleicht früher, was andernorts noch kommt – der Wunsch nach mehr Beteiligung. Neue Beteiligungsformen könnten diese Distanz verringern. Steffen Mau nennt den Osten ein mögliches „Labor der Partizipation“ – mit Erfahrungen, die auch den Westen bereichern könnten. Insofern ist der Osten möglicherweise nicht die Abweichung vom Westen, sondern ein Spiegel für das gesamte Land.

Der Osten in den Medien

Es gibt in Ostdeutschland – das zeigen die Interviews mit Ostdeutschen – sehr differenzierte Sichtweisen auf Ost-Identitäten und den Umgang mit der Demokratie. Doch viele teilen die Meinung, dass diese Differenzierungen im Westen kaum wahrgenommen werden. Plattenbauten, Industrieruinen, Neonazis und laute Proteste – wenn es im Osten rumort, werden medial häufig dieselben Bilder und Headlines produziert. Statt Unternehmensgründungen prägt sich das Bild der Problemzone ein.

Für die Doku "Es ist kompliziert … – Der Osten in den Medien" hat der MDR 2024 Millionen Presseartikel über den Osten ausgewertet. Eine künstliche Intelligenz wurde daraufhin mit den häufigsten Schlagworten befüllt. Herauskamen KI-generierte Bilder von überwiegend pessimistisch oder traurig wirkenden Menschen, sowohl in der Zeit der 90er Jahre – aber auch in der Gegenwart.

Bis heute wird der Osten in Medienformaten häufig als rückständige Region dargestellt.  Der junge Autor Domenico Müllensiefen ist 1987 geboren und in Magdeburg aufgewachsen. Er ist geprägt von der Diskrepanz zwischen den Medienbildern und den Realitäten im Osten, wie er sie erlebt hat.

Die Erzählung von der "Problemzone" ist nicht nur ein Bild.  Es verstärkt die faktisch messbare Ungleichheit – weniger Einkommen, weniger Vermögen – und prägt bei vielen Ostdeutschen den Eindruck, Bürger zweiter Klasse zu sein. Zwar ist das Etikett "ostdeutsch" alles andere als eindeutig. Aber wenn diese vor allem aus westdeutscher Perspektive besprochen wird, entsteht ein verzerrtes Bild, findet auch der Sozialforscher Daniel Kubiak.

Zukunft in Ostdeutschland

Die junge Generation Ostdeutscher möchte selbst gestalten, was das Ostdeutschsein ausmacht. Es ist keine trennende Haltung, sondern eine, die erkundet, was uns in Deutschland wieder verbinden könnte. Die Einheit ist demnach kein Zustand, den man einmal erreicht. Sie lebt von den Menschen in Ost und West, die einander zuhören, statt sich überzeugen zu wollen – findet auch der Musiker Tobias Künzel.

Folgt man diesem Bild, entscheidet sich die Zukunft der deutschen Einheit nicht in den Ministerien in Berlin, sondern in den Kleinstädten und Dörfern. Eine Lösung könnte in der Stärkung der unzähligen kleinen Initiativen in den Orten liegen.

Claus Weselsky, deutschlandweit bekannt als Gewerkschaftsführer der Lokomotivführer, blickt lieber in die Zukunft als in die Vergangenheit – wie auch viele junge Ostdeutsche. Die junge Generation Ostdeutsche scheint bereit zu einer offenen Diskussion über ein Zusammenwachsen zu sein, und erkennt Widersprüche und Konflikte ausdrücklich an.

Vielleicht ist gerade der Osten Deutschlands, mit all seinen Brüchen und seiner Geschichte des ständigen Neuanfangs, ein Labor für die Zukunft.

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