Der Terrorangriff der Hamas vor zwei Jahren hat Entsetzen ausgelöst. Israels Krieg im Gazastreifen wühlt Menschen weltweit auf. Wie kann man trotz allem im Gespräch bleiben? Zwei Organisationen in Stuttgart versuchen es.

Rachaa Chahaade, Oron Haim und Shai Ottolenghi sitzen um einen kleinen Tisch in einem Kulturhaus in Stuttgart. Vor ihnen stehen Weinschorlen und Softdrinks. Gerade saßen sie noch im Scheinwerferlicht auf der Bühne. Eine Stuttgarter Wochenzeitung hatte sie für eine Podiumsdiskussion eingeladen. Sie alle kennen die Bilder aus dem Gazastreifen, die Todeszahlen, die verzweifelte Lage vieler Palästinenser. Warum da noch mit der anderen Seite reden?

"Ich will die Hoffnung nicht aufgeben", erklärt Chahaade. Die junge Frau ist Deutsch-Palästinenserin, ihre Eltern flohen in den 1980er-Jahren aus einem libanesischen Flüchtlingslager nach Deutschland. Sie selbst galt bis zu ihrer Einbürgerung lange als "staatenlos" - ein Problem, das viele Menschen aus den palästinensischen Gebieten haben.

Verwandte von Chahaade leben in Ramallah im Westjordanland. "Die sehen täglich Raketen, das ist da normal", erzählt sie. Sie selbst spüre, wie sie die Traumata ganzer Generationen in sich trage. Wut, Verzweiflung, Panik - immer wieder kommen die vererbten Gefühle und Geschichten hoch. Dafür wolle sie Sichtbarkeit schaffen. Auch, weil hierzulande etwa 200.000 Menschen aus der palästinensischen Diaspora leben. "Unsere Stimmen sollen gehört werden", so Chahaade. "Wir sind Teil der Gesellschaft."

Miteinander statt übereinander reden

Genau darum engagiert sie sich seit rund anderthalb Jahren bei "Yad be Yad". Sowohl auf Arabisch als auch auf Hebräisch bedeutet das "Hand in Hand". Bei dem Stuttgarter Bildungsprojekt bietet sie gemeinsam mit Menschen mit israelischen Wurzeln Workshops zu Antisemitismus und anti-muslimischem Rassismus an. Damit wolle sie "ein Licht in der Dunkelheit entfachen", indem Begegnungen zwischen Palästinensern und Israelis möglich werden.

Auch Shai Ottolenghi ist aktiv bei "Yad be Yad". Der 27-jährige Israeli lebt seit acht Jahren in Deutschland, ist seit zwei Jahren Tänzer am Theaterhaus Stuttgart. "Der Grund, warum ich den Dialog suche, ist, weil ich eine krasse Wahrheitskrise habe", so Ottolenghi. Er berichtet, dass er früher in der Schule nichts über Palästina gelernt habe. "Das war nicht Teil des Lehrplans." Lehrer, die das Leid der Palästinenser trotzdem thematisierten, hätten damals gegen ein Neutralitätsgebot verstoßen.

"Es war voll das Narrativ, eine Agenda, die uns da reingepresst wurde", findet Ottolenghi. Aufgewachsen in Haifa, seien er und seine Freunde vollkommen abgeschirmt davon gewesen, was im Gazastreifen passiert. "Aber wenn ich schaue, was Israel gerade macht, dann kann ich nichts rechtfertigen", sagt der junge Tänzer.

Das Leid anerkennen

Diese Erfahrungen annehmen und aushalten lernen, darum geht es Oron Haim. Er leitet das Friedensprojekt "Sukkat Salam", in dem sich jüdische und muslimische Ehrenamtliche für Gemeinsamkeiten und Solidarität einsetzen. Dass durch die zum Teil brutalen Erfahrungen auch die Emotionen hochkochen, gehöre dazu. "An manchen Tagen funktioniert es besser und manchmal schlechter", sagt Haim.

Wenn er dabei gemeinsam mit Rachaa Chahaade mit Menschen diskutiert, kommt es schon mal vor, "dass Rachaa mich retten muss, manchmal muss ich reingrätschen". So unterstützen sie sich gegenseitig, auch in unsicheren Momenten.

Chahaade berichtet von einem Workshop gemeinsam mit Ottolenghi: "Da war eine Frau, die eine Kufiya (umgangssprachlich: Palästinensertuch) trug und eine Israelin, die sich davon getriggert fühlte." Zunächst schien es so, als würde die Situation eskalieren. Doch dadurch, dass die beiden einen offenen Raum für Streit geschaffen hatten, hätten die Frauen ihren Streit beigelegt und ihre Gemeinsamkeiten erkannt. "Die haben dann zur Beruhigung gemeinsam ein hebräisches Lied gesungen", erinnert sich Chahaade an diesen Moment.

Reflexion statt Hass

Dennoch geraten auch die vier untereinander mal in Streit. "Klar, wir haben unterschiedliche Perspektiven und klar wird es auch hitzig - aber trotzdem sitzen wir hier", erklärt Rachaa Chahaade. Das gelernt zu haben, sei wichtig gewesen.

Zu Beginn ihrer Zeit bei "Yad be Yad" in Stuttgart hätte sie noch oft vor Wut gezittert, wenn es zur Diskussion über die Situation im Gazastreifen kam. "Dann habe ich aber gemerkt, dass die Generalisierung letztlich der Anfang vom Ende ist." Trotzdem kommt es heute noch vor, dass sie Diskussionen nicht führen will, gerade wenn es weitere Todesopfer durch Angriffe des israelischen Militär gibt. "Dann sage ich zu Oron: Heute nicht, sonst fange ich an, von 'deiner' Regierung zu sprechen."

Auch die Frage einer Anerkennung Palästinas als eigener Staat wird unter ihnen immer wieder diskutiert. Chahaade betont, dass dies nicht ohne internationale Unterstützung funktionieren könne. "Palästina muss ein anerkannter Staat sein, aber dann müssen in diesem Staat auch Mechanismen etabliert werden, es braucht Werkzeuge. Und die müssen von der Weltgemeinschaft kommen", findet Chahaade.

Raum für Meinungen

Für Shai Ottolenghi ist die palästinensische Perspektive am wichtigsten. "Ich frage mich aber, ob es die Situation nicht schlimmer machen könnte."

Für Oron Haim bräuchte es zunächst eine demokratische Regierung in Palästina, alles andere sei Symbolpolitik. Außerdem bezweifelt er, dass sich die in Teilen rechtsextreme israelische Regierung davon abschrecken ließe, weiter gegen Palästina, auch im Westjordanland, vorzugehen. Darum bräuchte es laut Rachaa Chahaade Druck von der Weltgemeinschaft - und auch von der deutschen Regierung.

Transparenzhinweis: Maxim Flößer ist fester-freier Mitarbeiter des Südwestrundfunks (SWR) und ist gelegentlich für die KONTEXT:Wochenzeitung tätig, die die Podiumsdiskussion organisiert hatte.

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