Digitale Stolpersteine sollen Gedenken erweitern und Biografien sichtbar machen
MDR AKTUELL: Herr Wetzel, wie funktionieren digitale Stolpersteine?
Peter Wetzel: Passantinnen und Passanten, die Stolpersteine sehen, haben das Problem, dass sie nur die vier Zeilen, die durch den Künstler dort eingraviert sind, lesen können. Bei fast jedem Menschen, der darauf schaut, entsteht der Wunsch, mehr zu wissen: Was ist eigentlich die komplette Biografie dieser Personen, von denen nur das Geburtsjahr und der Todesort und die Todesart auf dem Stein stehen?
Gunter Demnig hat zu Beginn seiner Tätigkeit mit vielen Informationen gearbeitet und festgestellt, dass das logistisch nicht machbar ist und hat sie deswegen auf diese Daten begrenzt. Die Kunst besteht darin, dem Betrachter die Möglichkeit zu geben, an weitere Informationen zukommen. Die digitale App ist der Schlüssel dazu.
Ich gehe mit meinem Smartphone zum Stolperstein, halte die Kamera drauf – und dann öffnet sich eine neue Welt?
Dann öffnet sich ein Fenster und per GPS wird der Stein erkannt. Die Stadt Magdeburg hat heute einen völlig anderen Straßenverlauf als in den 1930er Jahren. Durch die Bombardierung ist die Stadt völlig anders strukturiert. Über GPS wird der Stein gefunden, das Fenster geht auf und man hat die Möglichkeit, die Biografie in Gänze zu lesen.
Es gibt darüber hinaus auch die Möglichkeit, innezuhalten mit virtuellen Kerzen. Wie funktioniert das?
Das ist das, was im realen Alltag mit den analogen Steinen auch passiert. Da werden Blumen abgelegt und häufig werden auch kleine Teelichter oder größere Kerzen zur Erinnerung hingestellt. In der digitalen Welt erscheint dann eine Kerze. Man kann zwischen fünf verschiedenen Farben wählen und die Kerze geht dann sozusagen an und steht neben dem Stolperstein. Man kann entscheiden, wo man sie platziert. Die Kerze brennt runter und ab dem siebenten Tag ist sie verschwunden. Dann können auch neue Personen motiviert werden, das zu tun.
Das Besondere ist dabei: Man kann das mit einer Schulklasse machen und hinterher stehen rund um diesen Stolperstein für jeden aus dieser Schulklasse Kerzen in unterschiedlichen Farben. Das ist ein sehr eindrucksvolles Bild des Gedenkens.
Welche Möglichkeiten eröffnen sich für die Geschichtsvermittlung an Kinder und Schulklassen?
Diese digitale App ist eine unfassbar große Hilfe. Für die Schulen, die ich aus meiner pädagogischen Tätigkeit der vergangenen 35 Jahre kenne, bieten sich viele schulische Projekte rund um diese Stolpersteine an. Es werden Putztouren gemacht und Schulklassen gehen an die Stolpersteine mit analogen Gedenkblättern für die 860 Personen, für die in Magdeburg Stolpersteine liegen.
Das ist natürlich auch eine große Bereicherung für die Arbeit der Stadtführer in Magdeburg, die sehr häufig Gruppen bekommen. Die bleiben vor den Stolpersteinen stehen und haben dann nur diese vier Zeilen. Jetzt haben sie die Chance, sich auch die Biografie anzusehen. Das betrifft insbesondere Familien mit Kindern im mittleren Alter, im Sekundarschulalter und darüber hinaus. Das Interesse an den Stolpersteinen ist sehr stark verankert.
Stolpersteine sind jetzt in der analogen Welt als auch in der digitalen Welt Orte der Begegnung. Welche Geschichten hören Sie da?
Insbesondere für jüdische Menschen wurden Stolpersteine verlegt. Sie machen den Hauptteil der Biografien aus, aber eben nicht nur. Es sind auch Opfer aus dem Euthanasie-Programm. Es sind Personen aus dem politischen Widerstand. Es sind Personen, die aus religiösen Gründen ermordet worden sind. Je nachdem, welche Person und welcher Hintergrund dort steht, entwickeln sich Gespräche, die stark mit unserer heutigen Gesellschaft zusammenhängen.
Ich nehme immer an den Sonntagsspaziergängen des Christopher Street Day Magdeburg teil, die alle Stolpersteine für homosexuelle Personen in ihrer Patenschaft haben. Oder wenn wir mit Nachfahren von ehemaligen Magdeburgerinnen und Magdeburgern unterwegs sind, was in letzter Zeit sehr häufig passiert, entwickeln sich zwischen den Gästen aus Amerika, Israel, Mexiko oder Kanada, emotionale Gespräche.
Immer wieder werden Stolpersteine gestohlen oder beschmiert. Wie erleben Sie das?
Ich kenne aus Magdeburg in den sechs Jahren meiner Mitwirkung drei verschiedene Akte, in denen das passiert ist. Im vergangenen Jahr sind in der Hohe-Pforte-Straße fünf von sieben Stolpersteinen gestohlen worden. Einmal sind Stolpersteine mit schwarzer Farbe beschmiert worden.
Häufiger passiert es, dass bei Baumaßnahmen Steine versehentlich entfernt werden. Die Firmen haben dann aus eigenen Mitteln neue Stolpersteine finanziert. Anschläge auf Stolpersteine halten sich in Grenzen.
Seit der Einführung der Stolpersteine gibt es Vorbehalte – etwa, dass man sie mit Füßen tritt. Wie sehen Sie das?
Nachvollziehbar ist das. Ich kenne auch die Diskussion im Zentralrat der Juden. Ich kann nur aus meiner Erfahrung sagen: In der Praxis spielt das kaum eine Rolle. Viel häufiger erleben wir Anerkennung und Beteiligung. Viele sprechen uns an, wenn wir Steine putzen. Die Aufmerksamkeit, das Verständnis und die Bereitschaft, sich dem Gedenken anzuschließen, ist da. Das ist die Motivation, warum wir als städtische Arbeitsgruppe dieses hohe Engagement an Zeit und Geld investieren. Wir bekommen dafür kein Geld. Wir sind engagierte Ehrenamtliche.
Das Interview führte Sven Kochale.
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