"Seitenwechsel": So verliefen Buchmesse und Gegenveranstaltungen
- Die "Seitenwechsel"-Büchermesse verband konservative und rechte Akteure mit Rechtsextremen.
- Die Strategie der Neuen Rechten, rechtsextreme Positionen zu normalisieren, hat bei "Seitenwechsel" funktioniert.
- Ein breites Bündnis organisierte ein Gegenfestival und Demonstrationen – dabei kam es auch zu einem Angriff auf einen Politiker.
Die Buchmesse "Seitenwechsel" hat nach Schätzungen von MDR-Reportern am Samstag und Sonntag mehrere Tausend Menschen auf die Messe in Halle gezogen. Die Messehalle war an beiden Tagen voll, bei einzelnen Veranstaltungen mussten Teile des Publikums wegen Überfüllung auf dem Boden sitzen. Die Stimmung auf der Messe war an beiden Tagen friedlich.
Filmen und Fotografieren waren auf der Buchmesse "Seitenwechsel" verboten – für einige aber doch erlaubt.Bildrechte: Thomas Datt, MDRRechte Buchmesse mit extremistischen Akteuren
Die Veranstaltung "Seitenwechsel" gilt als umstritten, weil neben konservativen und rechten Ausstellern auch Akteure der rechtsextremen Szene anwesend waren. Darunter befanden sich der Verlag Antaios, der seit 2024 vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem" eingestuft wird, und der Jungeuropa Verlag des Aktivisten der Neuen Rechten Philip Stein. Aufgrund des Ausstellerverzeichnisses wurde die Veranstaltung in der Öffentlichkeit als "rechte Buchmesse" wahrgenommen. Bekannte oder etablierte Publikumsverlage hatten nach Angaben der Veranstalter abgesagt.
Besucherandrang in Halle bei der Messe "Seitenwechsel".Bildrechte: MDRNeben zentralen Verlagen der Neuen Rechten und dem rechtsextremen Compact-Magazin waren auch zahlreiche Verlage für Militärgeschichte und Militaria vertreten. Laut MDR-Reportern vertrieben sie Publikationen, welche die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg und deutsche Kriegsverbrechen relativierten und verharmlosten. Außerdem hätten mehrere Aussteller verschwörungsmythologische Inhalte angeboten oder den Klimawandel geleugnet.
Der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp ließ sich ebenfalls auf der Buchmesse sehen.Bildrechte: picture alliance / dts-Agentur Neben den rechtsextremen Akteuren traten bei "Seitenwechsel" auch bekannte konservative Autoren wie Matthias Matussek, Hans-Georg Maaßen oder Uwe Tellkamp auf. Die ehemalige sächsische Landeschefin von Bündnis90/Die Grünen, Antje Hermenau, präsentierte bei "Seitenwechsel" ihren Essayband "Das große Egal". Sie sagte MDR KULTUR im Vorfeld: "Ich habe kein Problem damit, auf dieser Messe zu sein. Wie manche Leute manche Verlage einstufen, ist oft sehr subjektiv. Ich werde mich mit den Leuten unterhalten, die ich gerne treffen möchte, und das sind auch relativ viele. Es sind nämlich Rechte meistens, nur einfache Konservative."
Kubitschek: Buchmesse ist ein "Dammbruch"
Antaios-Verleger und Publizist Götz Kubitschek, der bei mehreren laut Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem" eingestuften Organisationen aktiv ist, bezeichnete "Seitenwechsel" bei einem seiner Auftritte auf der Messe als "Dammbruch". Die Besucher seien "der lesende Teil des Aufbruchs in eine bessere Zukunft für unsere Nation". Ihm gefalle die Atmosphäre der Buchmesse, sie erinnere ihn an die 68er-Bewegung.
Antaios-Verleger und Wegbereiter der Neuen Rechten Götz Kubitschek fühlte sich in Halle an die 68-er-Bewegung erinnert.Bildrechte: picture alliance/dpa | Frank RumpenhorstAuch andere geladene Autoren und Publizisten zeigten sich erfreut über das große Publikumsinteresse. Einige sprachen von einer "Zeitenwende" und einem "Befreiungsschlag". Das Publikum selbst wirkte laut MDR-Reportern sehr zufrieden mit den Themen und der Stimmung auf der Messe. So gab es zum Beispiel immer wieder Applaus, wenn vom "widerständigen" oder "unbeugsamen" Osten die Rede war.
Mit rund 100 Ausstellern konnte sich "Seitenwechsel" nicht mit den großen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig messen lassen.Bildrechte: Thomas Datt, MDR"Rechtsextreme fühlten sich sicher"
Der freie Reporter Thomas Datt, der immer wieder über rechte Veranstaltungen und rechtsextreme Netzwerke berichtet, war für MDR KULTUR vor Ort. Er erzählte von mehreren rechtsextremen Akteuren, die auf der "Seitenwechsel"-Büchermesse aufgetreten sind.
Darunter war die Partei "Freie Sachsen", die vom sächsischen Verfassungsschutz als "rechtsextreme Gruppierung mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen" eingestuft wird. Außerdem habe der rechtsextreme Anwalt Dubravko Mandic, der auch eine Kanzlei in Leipzig unterhält, einen eigenen Stand gehabt, an dem unter anderem eine Checkliste für Verhalten bei Hausdurchsuchungen verteilt worden sei. Daneben sichtete Datt Akteure der "Identitären Bewegung" und der ehemaligen AfD-Jugendorganisation "Junge Alternative" sowie AfD-Politiker.
Rechtsextreme fühlten sich sicher. Für sie war es wie ein Heimspiel.
Szenetypische Kleidung war laut Datt eher die Ausnahme. Den Einschätzungen des Journalisten zufolge besuchten auffällig viele Frauen die Veranstaltung, mehr als bei herkömmlichen Szenetreffs oder Demonstrationen. Datts Fazit: "Rechtsextreme fühlten sich sicher. Für sie war es wie ein Heimspiel – nur, dass das Publikum nicht mehr nur aus ihren Kameraden bestand, sondern auch aus mittelalten, konservativen Ehepaaren."
"Seitenwechsel"-Organisatorin sieht sich im "Endkampf"
"Seitenwechsel" wurde von der Dresdner Buchhändlerin und Verlegerin Susanne Dagen veranstaltet. Dagen, die als kulturpolitische Sprecherin der AfD-Fraktion im Dresdner Stadtrat sitzt, hatte die Veranstaltung als "geistige Notwehr" bezeichnet, da aus ihrer Sicht vor allem die großen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig in den vergangenen Jahren "politisch immer enger" geworden seien. Schon diese Ankündigung brachte große mediale Aufmerksamkeit mit sich.
Dem ARD-Kulturmagazin TTT sagte Dagen am Rande der Messe, ihr sei es mit dieser Messe vor allem um einen "Perspektivwechsel" gegangen: "Mir ging es in allererster Linie darum, jetzt mal unabhängig von Zuschreibungen, dass wir hier für zwei Tage den kritischen Stimmen im besten Falle in der Breite nachgehen."
In einem Youtube-Interview mit der dem politisch rechten Spektrum zugeordneten Journalistin Ulrike Stockmann sagte die Buchändlerin: "Ich glaube, dass wir jetzt in der Situation sind, dass selbst diejenigen, die vielleicht in ihren einsamen Stunden erkennen, dass sie auf dem falschen Dampfer sind, dass sie nach außen hin immer noch entschlossen sich zeigen. Das ist der Endkampf."
Sichtbar bleiben: Bürgerrinnen und Bürger in Halle protestierten am Wochenende gegen "Seitenwechsel". Bildrechte: Wir Festival, Marco WarmuthExperte: Versuch, Rechtsextremismus zu normalisieren
Mit ihrer Programmatik verfolgen die "Seitenwechsel"-Veranstalter laut David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Magdeburg das Ziel, rechtsextreme Inhalte salonfähig zu machen: "Der Charme für die Veranstalter besteht genau in dieser Mischung. Das Ziel ist ja, nicht nur unter sich zu bleiben." Es gehe darum, einen Repräsentationsrahmen einer Messe zu haben, in dem sich "auf einem normalisierenden Niveau rechtsextreme Verlage präsentieren können", so der Experte. Er glaubt, für die Organisatoren von "Seitenwechsel" sei die Messe ein Testlauf gewesen, um zu sehen, ob man mit so einer Veranstaltung einerseits die rechte Szene und gleichzeitig auch ein breites Publikum erreichen kann.
Laut dem Journalisten Thomas Datt ist diese Strategie der Normalisierung von rechtsextremen Inhalten bei der "Seitenwechsel"-Büchermesse aufgegangen: "Was die AfD und ihr Vorfeld im ländlichen Raum schon geschafft haben, wurde hier bei der Buchmesse wie durch ein Brennglas deutlich: Sie erreichen in einem immer größeren Kreis die kulturelle Hegemonie."
Breites Bündnis gegen "Seitenwechsel"
Der Börsenverein des deutschen Buchhandels misst "Seitenwechsel" keine große Bedeutung bei. Er teilte auf Nachfrage von MDR KULTUR mit: Politisch orientierte, kleinere Buchmessen hätten in Deutschland seit 1968 eine lange Tradition: "Sie sind um ein begrenztes Publikum herum organisiert und haben mit dem Wesen einer freien Handelsmesse wenig gemeinsam." Tatsächlich konnte die "Seitenwechsel"-Buchmesse mit ihren 100 Ausstellern nicht mit den Dimensionen der Leitmessen in Frankfurt (4.300 Aussteller) und Leipzig (2.000 Aussteller) mithalten.
Besucher auf dem Gegenfestival "Wir", das an diesem Wochenende seinen Abschluss fand.Bildrechte: Wir Festival, Marco WarmuthAus Protest gegen "Seitenwechsel" am Stadtrand fand in der Innenstadt von Halle das Gegenfestival "Wir" statt – mit Schaufensteraktionen, Lesungen, Konzerten und Podiumsdiskussionen. Laut den Veranstaltern kamen im Laufe des Festivals seit dem 21. September insgesamt 12.000 Menschen zu den 400 Veranstaltungen. Am Abschluss-Wochenende hätten noch 35 Veranstaltungen stattgefunden, zu denen rund 1.500 Besucher gekommen seien.
Den Menschen sagen: Was dort stattfindet, das ist keine normale Buchmesse.
Buchhänderlin und "Wir"-Sprecherin Theresa Donner.Bildrechte: MDR"Wir"-Sprecherin Theresa Donner, selbst Buchhändlerin, betonte, man habe mit dem Festival Menschen ermächtigen wollen, sich klar zu positionieren. "Dass wir die Menschen dazu bringen, sich zu interessieren und ihnen auch zu sagen: Was dort stattfindet, das ist keine normale Buchmesse." Prominente Unterstützer des "Wir"-Festivals war neben dem Börsenverein des deutschen Buchhandels unter anderem die Buchpreisträgerin Martina Hefter.
Buchpreisträgerin Martina Hefter las beim "Wir"-Festival und gab Autogramme. Bildrechte: Wir Festival, Marco WarmuthMehr als 30.000 Menschen hatten im Vorfeld eine Petition für die Absage der Buchmesse "Seitenwechsel" unterzeichnet, weil die Veranstaltung Hass und Intoleranz fördere. Auch der Stadtrat von Halle sprach sich mehrheitlich gegen die Büchermesse aus, verurteilte deren Ausrichtung und die Terminierung auf den 9. November, den Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Pogrome sowie der Friedlichen Revolution von 1989. Auch Halles parteiloser Oberbürgermeister Alexander Vogt hatte in einer offiziellen Stellungnahme seine Sorge über die geplante Messe geäußert.
Demonstrationen und Angriff auf Grünen-Politiker
Proteste gab es am Stadtrand wie auch in der Innenstadt - dabei kam es zum Übergriff auf einen grünen Politiker. Bildrechte: picture alliance/dpa | Sebastian WillnowEtwa 700 Menschen sind am Samstag in Halle gegen die "Seitenwechsel"-Büchermesse auf die Straße gegangen. Bei einer der Demonstrationen ist der Grünen-Politiker Sebastian Striegel angegriffen und verletzt worden. Wie die Polizei mitteilte, kam es zu dem Angriff am Samstagmittag im Bereich des Messegeländes. Striegel habe Schmerzen im Brustbereich davongetragen. Bei dem Angreifer soll es sich um einen 38-jährigen Mann handeln.
Cornelia Lüddemann, Vorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion, verurteilte den tätlichen Angriff auf Striegel, der sich demnach "in Ausübung seiner parlamentarischen Arbeit in Halle vor Ort befand". Sie erhob schwerwiegende Vorwürfe: "Für den Angriff wurde das Privileg der Pressefreiheit missbraucht, um in die Versammlung gegen die rechte Buchmesse zu gelangen und dort rechte Gewalt ausüben zu können. Dieser Missbrauch kann und darf nicht hingenommen werden", so Lüddemann.
Quellen: MDR KULTUR (Thomas Datt, Rayk Wieland, Bastian Wierzioch), Websites von "Wir"-Festival und "Seitenwechsel"-Buchmesse, Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt, AfD-Fraktion Dresden, Kulturhaus/Buchhaus Loschwitz, Stadtrat Halle, dpa
Redaktionelle Bearbeitung: bh, lm
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