Autoren diskutieren: Wie authentisch müssen Romane über die DDR sein?
- Für Autor Domenico Müllensiefen gibt es einen generationsübergreifenden gemeinsamen Erfahrungsschatz ostdeutscher Menschen.
- Vielen Autorinnen und Autoren ist es dabei wichtig, dass keine Klischees reproduziert werden.
- Auch die Frage nach faktengenauem Schreiben beschäftigt die Literaturwelt.
Wie kann DDR-Geschichte literarisch verarbeitet werden? Wer kann einen Roman über die DDR schreiben – und wer nicht? In dieser Debatte nimmt die Leipziger Schriftstellerin Angela Krauß eine klare Position ein. Sie sagte MDR KULTUR: "Wenn jemand die DDR überhaupt nicht erlebt hat und darüber schreibt – ich wäre nicht daran interessiert."
Krauß, die 1950 in Chemnitz geboren wurde, erklärte, sie suche in der Literatur authentische Perspektiven: "Ich bin sehr neugierig auf das Leben, sagen wir, eines 12-jährigen Kindes in der DDR, wenn es nach 15 Jahren über dieses Erleben schreibt – strikt aus dieser erinnernden Perspektive."
Das Interesse junger Autorinnen und Autoren, DDR-Geschichte zu erzählen, ohne sie selbst erlebt zu haben, begründet der Autor Domenico Müllensiefen im Gespräch mit MDR KULTUR mit einem gemeinsamen Erfahrungsschatz, den Menschen aus Ostdeutschland teilten. Dabei sei es egal, ob sie die DDR noch selbst erlebt hätten oder noch gar nicht geboren seien. Er sieht die Wendezeit als "heftige Erfahrung", die in jede einzelne Biografie hineinginge. "Das ist eine Erfahrung, die Westdeutschland nie gemacht hat." Müllensiefen wurde 1987 in Magdeburg geboren.
Wir haben diesen einen Erfahrungsschatz – und zwar alle, die hier leben, gelebt haben oder auch noch herkommen werden.
Domenico Müllensiefen sieht die DDR und Wende als "heftige Erfahrung", die die Menschen im Osten verbindet.Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNKKönnen nur Zeitzeugen die DDR "wahrhaftig" beschreiben?
Niemand spreche den Jüngeren das Recht ab, über solche Themen zu schreiben – so lautet die Bilanz von MDR KULTUR-Literaturredakteur Jörg Schieke, der Mitte November die Tagung "Schreiben und Erinnern" in Leipzig mitverfolgte. Laut Schieke ginge es vielen Autorinnen und Autoren, die wie Angela Krauß und Domenico Müllensiefen an der Tagung teilnahmen, darum, keine einfachen Wahrheiten und Klischees zu reproduzieren, sondern auch die Zerrissenheiten und Konflikte dieser Zeit abzubilden.
Niemand spricht den Jüngeren das Recht ab, über solche Stoffe zu schreiben. Aber es geht darum, keine einfachen Wahrheiten und Klischees zu reproduzieren.
Die Autorin Angela Krauß empfindet die Beschäftigung mit der DDR als wichtig, allerdings sollte dabei die Perspektive gewahrt werden. Sie freue sich sehr, "wenn diese Generation, die wenig aus dieser Zeit erlebt hat, das jetzt in sich aufruft". Es sei bereits "etwas Wahrhaftiges", wenn jemand zu DDR-Zeiten nur "aus der Wiege geguckt" habe und sich heute an etwas erinnere. Dagegen hätten für sie Werke, die auf "medial vermittelten Interpretationen, von denen wir ja umgeben sind" basieren, mit Literatur "überhaupt nichts zu tun".
Und wenn einer aus der Wiege geguckt hat und sich an etwas erinnert, ist das schon etwas Wahrhaftiges.
Unterschiedlicher Umgang mit DDR-Literatur – Faktentreue oder Fiktion?
Die Frage, wie faktentreu historische Literatur sein muss, beschäftigt Deutschlands Literaturszene spätestens, seitdem die 1992 geborene Charlotte Gneuß ihren Roman "Gittersee" über die DDR veröffentlichte. Der Roman bekam neben viel Lob und Anerkennung auch teils vehemente Kritik. So wurde seinerzeit eine "Mängelliste" an den Fischer-Verlag geschickt, der historische Ungenauigkeiten monierte.
Die Autorin Charlotte Gneuß hat ihren Roman "Gittersee" in der DDR spielen lassen.Bildrechte: S. FischerAuch um ein Buch des 1984 in Halle geborenen Autor Matthias Jügler gab es bereits Diskussionen. Sein Roman "Maifliegenzeit" thematisiert das Schicksal einer DDR-Familie, deren Kinder durch die Stasi für tot erklärt wurden, um sie in andere Familien zu geben. Im Nachwort schreibt Jügler von einer großen Zahl realer Verdachtsfälle, die allerdings von der Wissenschaft nicht bestätigen werden konnte.
MDR-Literaturredakteur Schieke sieht darin eine Gefahr der Verwischung. Seiner Erfahrung nach sei jungen Menschen häufig nicht klar, dass es es sich um fiktionalisierte Inhalte handle. Er sieht die Verantwortung dafür, Kunst und Geschichte auseinanderzudröseln bei den Deutschlehrern. Die Kunst selbst müsse frei sein. Der Roman habe alle fiktionalen fantastischen Freiheiten.
Autorin Pruschmann: "Ich muss trotzdem recherchieren"
Die Autorin Tina Pruschmann, 1984 in Schmalkalden geboren, hält das genaue Wiedergeben von Fakten innerhalb ihrer Romane für wichtig. Im Gespräch mit MDR KULTUR sagte sie, sie schöpfe beim Schreiben aus ihren Erinnerungen, stelle aber im Prozess des Erinnerns fest, dass sie dabei auch unsicher sei. "Auch, wenn ich das Ende der Achtziger bewusst erlebt habe, muss ich trotzdem recherchieren." Pruschmann veröffentlichte 2022 den Roman "Bittere Wasser", der in der DDR spielt.
Ich schöpfe aus meinen Erinnerungen und stelle in dem Prozess des Erinnerns fest, wie unsicher ich bin.
Tina Pruschmann schöpft beim Schreiben aus ihren eigenen Erfahrungen – dabei kommt sie aber immer wieder an Grenzen.Bildrechte: Robin Kunz Für die ältere DDR-Literaturszene um Angela Krauß, Andreas Reimann und Jan Kuhlbrodt ist dagegen klar: Die Literatur darf sich nicht im Aufblättern der Fakten erschöpfen. Angela Krauß sieht ihre Aufgabe darin, "in allerfeinsten Schwingungen das zusammentragen, was die Sprache der Medien gern in Form von Skandal, Paukenschlag und Enthüllung abliefert".
MDR-Literaturredakteur Schieke sieht in der DDR nach wie vor ein Marktsegment in Film und Literatur, das sich seine eigenen Bilder und Verkaufsmethoden schaffe. Und: Die DDR sei dabei noch nicht zu Ende erzählt.
Quellen: MDR KULTUR (Ben Hänchen), Sächsischer Literaturrat
Redaktionelle Bearbeitung: hki, gw
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke