Inhalt des Artikels:

  • Wie kann Pflege digitalisiert werden?
  • Der virtuelle Hausbesuch
  • Pflegeausbildung: Vor dem Menschen das VR-Szenario
  • Weil es schnell gehen muss: Der digitale Sprachtherapeut

Das Kultur- und Gemeindezentrum Teutschenthal atmet Geschichte: Die mit Holz vertäfelten Wände erzählen von einer langen Tradition ausschweifender Tanzabende. In diesem rustikalen Ambiente haben sich die unterschiedlichsten Menschen zusammengefunden: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Mitarbeitende von Pflegeeinrichtungen und -diensten sind angeregt im Gespräch. Am Tisch daneben haben es sich einige Seniorinnen an einem Tisch gemütlich gemacht, gleich daneben parken ihre Rollatoren. Entlang der Saalwände reiht sich ein Stand an den nächsten. Sie gehören jeweils zu einem TDG-Förderprojekt. Auf dem Innovation Summit präsentieren sie ihre Ergebnisse und vernetzen sich mit anderen Akteuren aus der Pflege.

Wie kann Pflege digitalisiert werden?

Im ersten Moment klingt das Anliegen des TDG-Bündnisses, die Pflege digitalisieren zu wollen, widersprüchlich. Denn natürlich bleibt Pflege vor allem Handarbeit. Einen bettlägerigen Senioren in der Pflegeeinrichtung muss auch künftig eine Pflegekraft lagern, waschen und mit Medikamenten versorgen.

Silke Otto, Leiterin der Pflegeeeinrichtung Lutherhof, die eine Digitale Residenz-Praxis erprobt, berichtet von ihren Erfahrungen.Bildrechte: MDR/Kristin Kielon

Der vollautomatische Pflegeroboter ist nämlich längst noch Utopie und sollte es womöglich auch bleiben, denn tatsächlich ist Pflege vor allem auch menschliche Zuwendung. Doch dafür bleibt im Alltag vieler Pflegender kaum mehr Zeit: Immer weniger Menschen müssen sich künftig um immer mehr Pflegebedürftige kümmern – insbesondere in überalterten Regionen wie Mitteldeutschland.

Die Technik kann dem Fachpersonal aber immerhin unter die Arme greifen, die Betroffenen unterstützen und es alten Menschen ermöglichen, länger eigenständig zu bleiben. Die Entwicklung solcher Produkte und Anwendungen fördert die TDG im Süden Sachsen-Anhalts unter Leitung der AG Versorgungsforschung Pflege im Krankenhaus der Universitätsmedizin Halle.

Beim Innovationsgipfel in Teutschenthal werden dann auch zahlreiche Technologien vorgestellt: Es geht zum Beispiel um smarte Sensoren, die registrieren, wenn ein Pflegebedürftiger das Bett verlässt oder ein alter Mensch einsam ist, um die Medikamentenlieferung per Drohne, den smarten Rollator, die Medikamentenbox, die nicht nur an die Einnahme erinnert, sondern sie auch kontrolliert und tatsächlich auch um Roboter. Doch neben diesen ganz praktischen Ansätzen sollen auch virtuelle Realitäten die Pflege und die Therapie verbessern.

Der virtuelle Hausbesuch

In einer Ecke des Raums hat ein junger Mann eine Virtual-Reality-Brille, mit den VR-Controllern in der Hand bewegt er seine Arme auf und ab. Sein Name ist Jacob Metzkow. Er hat am Projekt DigiKonf mitgearbeitet – einem Hausbesuch in der virtuellen Realität. Nun demonstriert er, wie die Technologie funktioniert: Auf einem Bildschirm ist ein Schlafzimmer zu sehen. Metzkow ersetzt das Bett im Raum durch ein Pflgebett und richtet es so aus, dass es gut in den Raum passt.

Der virtuelle Hausbesuch ist für Patienten gedacht, die länger in der Rehabilitation sind, erklärt Uta Kirchner-Heklau vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. "Das sind zum Beispiel querschnittsgelähmte Patienten oder Schlaganfallpatienten. Diese Menschen sitzen plötzlich im Rollstuhl, wollen aber nach der Reha wieder zu Hause leben." Damit das gelinge, müssen die Behandelnden in der Reha aber erfahren, wie es bei der Person zuhause aussehe, so Kirchner-Heklau. "Denn der Therapeut muss ja wissen, was er mit dem Patienten trainiert. Wie viele Treppen muss er gehen? Passt der Rollstuhl durch die Tür?" Außerdem müssten bereits jetzt die benötigten Hilfsmittel verschrieben werden – also etwa das Pflegebett.

Das DigiKonf-Projektteam (Marcel Deutschel, Uta Kirchner-Heklau und Jacob Metzkow v.l.n.r.)Bildrechte: MDR/Kristin Kielon

In der virtuellen Realität kann der Therapeut mit der Software also einfach die Wohnung des Patienten besuchen und sich die Bedingungen mit eigenen Augen anschauen. Alles, was es dafür braucht, ist ein 3D-Scan der Wohnung, erklärt Entwickler Marcel Deutschel vom Hallenser Unternehmen codemacher. Dafür schicken sie den Angehörigen ein einfaches Smartphone mit einem sogenannten Lidarscanner. "Die Angehörigen haben die Wohnräume dann in 3D gescannt und uns das Handy zurückgeschickt. Wir nehmen diese Daten dann auf und machen daraus in unserem System einen virtuellen Raum."

Experten-Treffen direkt vor Ort

In der virtuellen Wohnung können sich die Behandelnden anschließend nicht nur umschauen, sondern sich sogar mit anderen Beteiligten und dem Betroffenen in der Konferenzfunktion austauschen. "Ich kann mich als Therapeut also gezielt und detailliert über den Wohnraum informieren und das vor allem mit anderen Therapeuten und dem Patienten besprechen", sagt Kirchner-Heklau. "Er kann seine Meinung dazu sagen und man kann wirklich ganz konkrete Probleme und Lösungsansätze diskutieren." In der Pilotphase hätten sich unter anderem auch Angehörige, die Sanitätshäuser und Architekten von extern eingewählt, um bei der Wohnraumbegehung ihre Expertise einzubringen. Eine eigene VR-Brille brauchen sie dafür nicht unbedingt, ein normaler Monitor reicht dafür aus.

Mit der VR-Brille stehen Reha-Patient und Therapeut mitten in der Wohnung.Bildrechte: MDR/Kristin Kielon

Ziel sei es künftig, dann auch gleich die passenden Produkte aus einem Hilfsmittelkatalog auswählen zu können, sagt Entwickler Metzkow. "Also man kann dann sagen, wenn man sieht, dass das Bett nicht passt: Wir löschen das raus und machen an die Stelle ein anderes Bett aus einem Katalog." Es gehe also auch darum, unter realen Bedingungen zu planen, ergänzt sein Kollege Deutschel: "Das ist natürlich für die Sanitätshäuser praktisch, denn man kann so ein Pflegebett nicht mal probehalber in einer Wohnung aufbauen. Und dann kann man direkt überlegen: Muss hier ein Deckenlift hin?"

Und nicht zuletzt sei das Ganze auch für die Betroffenen eine große Hilfe, sich in der neuen Situation zurecht zu finden. Für die ersten Betroffenen soll der virtuelle Hausbesuch schon im kommenden Jahr Realität werden. Das BG Klinikum Bergmannstrost Halle wird die Technologie einsetzen, sagt Kirchner-Heklau. "Zumindest die Anwendungen in der Klinik zwischen Therapeuten und Patienten und auch die Konferenzfunktion funktionieren gut, auch wenn der Hilfsmittelkatalog noch nicht vollständig ist." Denn hier fehlt es noch an Daten, so die Entwickler: 3D-Modelle der Produkte für die virtuelle Welt zu bekommen, sei aktuell noch eine der größten Herausforderungen.

Pflegeausbildung: Vor dem Menschen das VR-Szenario

Das Projektteam vom virtuellen Hausbesuch ist nicht das einzige auf dem Innovationsgipfel, das VR-Brillen nutzt. Auch dort, wo es um die Ausbildung junger Pflegekräfte geht, sieht das Projektteam von DigiCare Potenzial in der Technologie. "Unsere Vision für die Zukunft ist tatsächlich, eine Art digitalen Raum zu schaffen, der einen besseren Transfer von der Theorie in die Praxis ermöglicht", erklärt Jana Hoyer-Meyer, Lehrkraft an der DRK Pflegeschule "Henry Dunant" in Halle.

Die Palette der TDG-Projekte ist groß: Einige Produkte sollen das Leben von Senioren einfacher machen.Bildrechte: MDR/Kristin Kielon

Das Team steckt noch mitten in der Entwicklung der Lernanwendung im virtuellen Raum. "Aktuell gibt es zwei große Lernszenarien. Das ist einmal die Mobilisation und die Wundversorgung, aufgeteilt in sechs Lernszenarien, die erstellt wurden", so Hoyer-Meyer. Aktuell gehe es darum, zu erproben, wie diese Szenarien sich in den Lehrplan der Pflegeschülerinnen und -schüler integrieren lassen. "Das muss sinnvoll sein und die Stunden, die wir zur Verfügung haben, sind nur wenige. Der Praxisteil ist so komprimiert, dass man immer schauen muss, wie man das effektiv einbauen kann."

Denn die virtuelle Realität soll die Praxisausbildung am echten Menschen ergänzen und nicht ersetzen, betont die Lehrkraft. "Das heißt, bevor man in die Praxis geht, habe ich schon ein Gefühl entwickeln können, wie gehe ich in dieser Situation tatsächlich mit dem zu Pflegenden um und wie gehe ich auch mit den Materialien um." Die Lernanwendung sei also tatsächlich eine Art Simulation der Lernsituation, bevor es dann an die Pflegepuppe gehe oder – im Fall der Mobilisation – an die anderen Auszubildenden, an denen geübt wird. Wenn der Pflegeschüler also die VR-Brille aufsetze, erläutert Hoyer-Meyer, dann starte der gesamte Ablauf: Der Nutzer muss eine Patientenakte auswählen und wird dann bis zur tatsächlichen Behandlungssituation durch das Programm geführt – einmal Abtauchen in die virtuelle Realität mit allen Sinnen.

Weil es schnell gehen muss: Der digitale Sprachtherapeut

Doch es braucht für eine hilfreiche digitale Unterstützung nicht immer ganze virtuelle Welten. Bei der Sprachtherapie geht es auch einfacher. Hier ist es nämlich in bestimmten Fällen vor allem wichtig, schnell zu reagieren – zum Beispiel bei der Aphasie. "Eine Aphasie ist eine erworbene Sprachstörung, die Leute im Alter über 65 Jahre meist nach einem Schlaganfall betrifft und sie bedeutet einen Teilverlust des Sprachsystems", erklärt Judith Pitschmann von Institut für Sprechwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wer eine Aphasie hat, kann nicht nur Probleme beim Sprechen bekommen, sondern auch beim Schreiben, Lesen, aber auch Hören und Verstehen. Allein in Sachsen-Anhalt seien nach einem Schlaganfall rund 5.000 Menschen jährlich davon betroffen.

Kommt es zu einer Aphasie, muss vor allem schnell reagiert werden, ergänzt Sprechwissenschafts-Professorin Susanne Voigt-Zimmermann. "Wenn es eine Mangelversorgung im Sprachzentrum gibt, weil Blutgefäße verschlossen sind oder im schlimmsten Fall sogar platzen, dann werden Gehirnregionen zerstört, wo Sprache verarbeitet und gesteuert wird." Deshalb sei es wichtig, dass andere, daneben liegende Regionen durch eine frühzeitige, hochfrequente Therapie sofort angeschlossen würden, um die Aufgaben der zwischenzeitlich unterversorgten Bereiche zu übernehmen und sie wieder in Funktion zu bringen.

Judith Pitschmann (links) und Susanne Voigt-Zimmermann vom Projekt AphaDigital mit ihrer digitalen Therapeutin Eva.Bildrechte: MDR/Kristin Kielon

Aber schnell passiert da aktuell wenig: Die Wartezeit auf einen Sprachtherapieplatz liege bei etwa einem halben Jahr, so das Projektteam. Deshalb haben sie die Sprachtherapie-Anwendung AphaDigital entwickelt – eine digitale Therapeutin also, die inzwischen einspringen kann. "Die Idee ist, dass die Patienten mit einem Tablet aus der Reha kommen. Da ist die App drauf und dann klickt man drauf und wird durch die Übungssitzungen begleitet", sagt Pitschmann.

Die virtuelle Therapeutin hilft weiter

Diese Begleitung übernimmt die virtuelle Sprachtherapeutin Eva. Auf unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und je nach Trainingsbedarf unterstützt sie die Betroffenen beim Üben – zum Beispiel mit einer sogenannten Anlauthilfe. "Ein typisches Symptom ist, dass Aphasie-Patienten das Wort nicht finden oder es nicht ganz richtig sagen", erklärt Voigt-Zimmermann. "Oder es liegt ihnen auf der Zunge, aber sie finden es nicht wirklich und dafür gibt es die Anlauthilfe." Das heißt also, die virtuelle Therapeutin formt im Video den Mund so, dass der Patient weiß, welcher Buchstabe gesprochen werden muss – beim Löffel zum Beispiel formen sich Evas Lippen also rund, um den Buchstaben L "anzulauten".

Künftig soll die digitale Sprachtherapeutin auch noch lernen können, erklärt die Professorin. "Ein Ziel ist, dass wir die Umgebung durch KI aufnehmen und alles was in der Umgebung eine Rolle spielt – Namen, Tiere Bilder, Farben – sofort ins Sprachmaterial mit einfließen lassen." Und dann soll die KI auch die Fortschritte des Patienten analysieren und die Übungen individuell anpassen. Die Therapie mit einem echten Menschen soll aber auch AphaDigital nicht ersetzen, sondern ergänzen, betont Voigt-Zimmermann. "Aber die ganze Zeit, wo sie nicht da ist, passiert eben nicht nichts, sondern es passiert etwas."

Die Drohne fliegt bereits: In Dessau liefert sie Medikamente aus.Bildrechte: MDR/Kristin Kielon

Die Sprachtherapie-App ist noch nicht ganz marktreif, aber auf dem besten Weg. Das gilt für viele der von der TDG geförderten Projekte: Das Ziel ist, die digitalen Anwendungen direkt in die Praxis zu bringen. Deshalb ist es natürlich sinnvoll, dass eben viele dieser Praktikerinnen und Praktiker nicht nur auf dem Innovationsgipfel sind, sondern auch direkt in die Entwicklung der Produkte und Anwendungen involviert werden. Und nicht nur die Pflegekräfte, sondern auch die Pflegebedürftigen selbst haben hier ein Wörtchen mitzureden: Viele der Projekte beruhen auf dem Prinzip der partizipativen Forschung. Das ist ein Forschungsansatz, bei dem Menschen, deren Leben von dem Forschungsprojekt betroffen ist, aktiv und gleichberechtigt als Partner in den gesamten Prozess einbezogen werden. Das macht es nicht immer einfach und schnell, sorgt aber dafür, dass nachhaltige Lösungen entstehen, von denen die Betroffenen wirklich einen Nutzen haben.

Links/Studien

Informationen zu allen Projekten der Translationsregion digitalisierte Gesundheitsversorgung (TDG) gibt es hier.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke