Sicherheitskräfte "regelmäßig" an Massakern beteiligt
Zum ersten Mal seit knapp 60 Jahren hat ein syrischer Präsident vor der UN-Vollversammlung gesprochen. Doch ein Gutachten sieht seine Sicherheitskräfte in Angriffe gegen Minderheiten verwickelt. Hat al-Scharaa sie unter Kontrolle?
Erst im März, dann im Juli schien die fragile Lage im Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes auf der Kippe zu stehen. In beiden Fällen gingen Berichte von Massakern an religiösen Minderheiten um die Welt. Die Sorge wuchs, dass der neue Präsident Ahmad al-Scharaa sich nicht von seiner Vergangenheit als islamistischer Milizenführer losgesagt - oder seine Sicherheitskräfte nicht unter Kontrolle habe. Al-Scharaa aber machte vor allem Andere für die Gewalt verantwortlich.
Nun kommt ein Bericht der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, der dem WDR vorliegt, zu dem Schluss, dass eine "Involvierung von Soldaten der derzeitigen syrischen Armee, von Kämpfern mit der Regierung affiliierter Milizen sowie der syrischen Sicherheitskräfte in Massaker und Menschenrechtsverletzungen regelmäßig gegeben" sei. Die Linken-Abgeordnete und außenpolitische Sprecherin Cansu Özdemir hatte ein Gutachten zu Transformationsprozessen in Syrien in Auftragen gegeben.
"An Massakern beteiligt"
Die Gutachter kommen zu dem Schluss, dass es keine konkreten Beweise dafür gebe, dass hochrangige Mitglieder der Regierung aktiv die Verfolgung und Tötungen von Minderheiten veranlasst oder geduldet hätten. Allerdings werfen auch sie die Frage auf, ob die Regierung in Damaskus alle Teile der Armee unter Kontrolle habe.
Nach dem Sturz von Syriens Machthaber Bashar al-Assad und der Übernahme von al-Scharaa wurden ehemalige Kämpfer seiner islamistischen Gruppe Hay’at Tahrir Al Sham (HTS) sowie andere bewaffnete Milizen Anfang des Jahres in die Armee eingegliedert.
Im März dann griffen Anhänger Assads in der Provinz Latakia Sicherheitskräfte der Interimsregierung an. Eine Gegenoffensive löste eine Welle der Gewalt aus. In Folge dessen wurden zwischen 1.060 und 1.500 Menschen getötet, zum großen Teil alawitische Zivilisten. Regierungsnahe Milizen und ehemalige HTS-Brigaden sollen laut den Wissenschaftlichen Diensten an den Massakern der alawitischen Bevölkerung beteiligt gewesen sein.
Al-Scharaa verurteilte die Gewalt und nannte sie eine "Bedrohung für die Einheit des Landes" - und kündigte eine Untersuchung an. Das Ergebnis dieser Untersuchung lag zwar schon im Juli 2025 vor, wurde allerdings bis heute nicht vollständig veröffentlicht. 30 Menschen sollen seitdem verhaftet worden sein.
Teils "ideologische Motivation"
Im Juli kam es dann in der Provinz Suweida zu Kämpfen zwischen der drusischen Minderheit, Beduinenstämmen sowie anderen bewaffneten Gruppen. Die syrische Armee rückte daraufhin ein, insgesamt wurden etwa 1.400 Menschen getötet.
Laut Menschenrechtsorganisationen, auf die sich die Wissenschaftlichen Dienste beziehen, kam es zu Exekutionen und anderen Verbrechen durch Regierungstruppen.
Einige der Hinrichtungen seien durch Videomaterial gut dokumentiert, meint Nahost-Experte Robert Chatterjee: "So willkürlich die Tötungen dabei vorgenommen wurden, desto eindeutiger sticht in einigen Fällen die ideologische Motivation hervor. In einem der ausgewerteten Videos fragen die Soldaten einen Mann, ob er Druse sei und erschießen ihn daraufhin." Aber auch bewaffneten drusischen Gruppen werden schwerste Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.
Schützt Regierung die Rechte von Minderheiten?
Zudem bescheinigt der Bericht der Wissenschaftlichen Dienste demokratische Defizite für die bevorstehenden Parlamentswahlen in Syrien, die erst diese Woche auf Oktober verschoben wurden. So würde der Interimspräsident ein Drittel der Abgeordneten selbst ernennen. Provinzen mit hohem Anteil von Kurden und Drusen sollen zunächst von den Wahlen ausgeschlossen werden - aufgrund der Sicherheitslage, heißt es.
Die Wissenschaftler des Bundestages stellen in Frage, inwieweit die syrische Interimsregierung trotz aller Bekräftigungen die Rechte von Minderheiten schützt. Die kurdische Bevölkerung stehe zwar nicht primär von staatlicher Seite unter Druck, sondern weiterhin vor allem von der Türkei. Doch die "Eindämmung der kurdischen Autonomiebestrebungen" im Norden Syriens sei ein gemeinsames Interesse von Damaskus und Ankara.
Bereits vor ihrer Machtübernahme bestanden zwischen der HTS von al-Scharaa und der türkischen Regierung enge Beziehungen. Die Türkei hatte sich im syrischen Bürgerkrieg früh auf Seiten der islamistischen Rebellen und gegen Assad gestellt. "Erst das Bündnis mit der Türkei ermöglichte der HTS den Sturz der Assad-Regierung", so das Gutachten. Auch jetzt pflege die Türkei besonders enge Beziehungen zur neuen syrischen Regierung.
Von extremistischer Vergangenheit gelöst?
Heute wird bei der UN-Generalversammlung in New York mit al-Scharaa zum ersten Mal seit knapp 60 Jahren ein syrisches Staatsoberhaupt teilnehmen und eine Rede halten. Während der Versammlung soll es auch um Syriens Beziehung zu Israel gehen. Insbesondere die USA setzen auf ein Sicherheitsabkommen zwischen Syrien und Israel.
Laut den Wissenschaftlichen Diensten schenkt die israelische Regierung "den Beteuerungen der ehemaligen HTS-Funktionäre, ihre fundamentalistischen Wurzeln hinter sich gelassen zu haben, jedoch keinen Glauben und begegnet der neuen syrischen Regierung wegen der dschihadistischen Vergangenheit der HTS mit Misstrauen". Ob die neue syrische Regierung eine Bedrohung für Israel darstelle, ließe sich nicht ohne Weiteres prognostizieren. Derzeit sei die syrische Regierung noch stark geschwächt und übe ihre Staatsgewalt nicht auf dem gesamten Staatsgebiet aus.
Doch auch andere Experten zweifeln, inwiefern sich die syrische Führung von ihrer extremistischen Vergangenheit gelöst hat. "Die größte Aufgabe für Ahmad al-Scharaa bleibt, sich endgültig von jenen Islamisten loszusagen, die ihn jahrelang über Wasser gehalten und an die Macht gebracht haben", so Nahost-Experte Chatterjee. Angesichts der dokumentierten Gräueltaten müssten die Täter zu Verantwortung gezogen werden, warnt er. "Ansonsten wird dieser Schatten über dem Transformationsprozess hängen bleiben."
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke