Chronisch krank arbeiten: "Meistens sind es Schuldgefühle, die mich zur Arbeit treiben"
- Katrins Depression macht sie antriebslos und hält sie in Gedankenkreisen gefangen, die sie unglaublich erschöpfen.
- Angestellte verschweigen ihre Gesundheitsprobleme oft aus Angst vor Stigmatisierung, dabei haben rund 35 Prozent der Deutschen mindestens eine chronische Krankheit.
- Was chronisch Kranken am meisten hilft, sind flexible Arbeitsbedingungen.

"So blöd das vielleicht klingt – meistens sind es Schuldgefühle, die mich auf die Arbeit treiben", sagt Katrin leise. Die junge Frau mit den langen blonden Haaren und den bunten Tattoos ist Buchbinderin. Sie liebe ihren Job, sagt sie – und trotzdem strenge er sie unendlich an. Grund ist die Depression, die Katrin schon seit 20 Jahren begleitet.
Katrin kuschelt sich auf ihre Couch. Keine drei Minuten nachdem sie sich hingesetzt hat, lassen sich ihre beiden Katzen neben ihr nieder. Asura und Anavi blinzeln entspannt, gelegentlich wird zustimmend miaut.
Man ist nicht mehr lebensfähig. Man existiert nur irgendwie, ist eine Hülle, aber alles innen drin ist irgendwie leer.
Mit bedächtiger Stimme erzählt Katrin von ihrer Depression: "Mir fällt es unglaublich schwer, Sachen zu unternehmen. Wenn ich nicht aus dem Haus muss, gehe ich eigentlich auch nicht raus." In den schlimmsten Phasen sei sie nur von der Couch aufgestanden, wenn sie zur Toilette musste. Sonst habe sie fast die ganze Zeit geschlafen oder nur auf der Couch gelegen und nichts gemacht.
"Man ist nicht mehr lebensfähig. Man existiert nur irgendwie, ist eine Hülle, aber alles innen drin ist irgendwie leer", so beschreibt es Katrin. Und gleichzeitig gebe ihr Kopf keine Ruhe: "Ich bin dann die ganze Zeit nur in irgendwelchen Gedankenkreisen gefangen. Überdenke Situationen, die schon X Jahre zurückliegen, schäme mich für Sachen und hinterfrage vieles." Genau das sei unglaublich erschöpfend.
Limits ignorieren – bei chronisch Kranken oft Alltag
Trotzdem geht Katrin jeden Tag zur Arbeit. "Ich will nicht, dass mein Mann der Alleinverdiener ist, ich will auch was beitragen", sagt sie entschieden. Außerdem helfe ihr die Routine. Vor drei Jahren hat Katrin die Ausbildung zur Buchbinderin abgeschlossen. Seitdem gibt sie ihr Bestes, um den Anforderungen, die an sie gestellt werden, gerecht zu werden. "Wenn ich merke, ich bin schon wieder am Limit, ignoriere ich das oft. Aber wenn ich denke, die Woche geht es schon noch, dann haut mir mein Körper inzwischen oft einen Infekt rein, der mich mehrere Tage ans Bett fesselt."
Auch auf der Arbeit stehe die Depression Katrin oft im Weg, erklärt sie. "Diese Gedankenkreise, die mich manchmal so auf die Couch zwingen, die sind da allgegenwärtig, sodass ich jeden einzelnen Schritt zehnmal zerdenke, bevor ich ihn wirklich mache. Was mich natürlich auch wieder an der Produktivität hindert."
Was Katrin geholfen hat, sagt sie, war ihre Stunden zu reduzieren. Bei ihrer aktuellen Arbeitsstelle habe sie schon im Bewerbungsgespräch gesagt, dass sie maximal 35 Stunden in der Woche arbeiten könne. Geeinigt habe man sich dann auf 30. "Das ist für mich optimal."
Ihre Bedürfnisse klar zu kommunizieren, damit hat Katrin nicht nur gute Erfahrungen gemacht: "Als ich meinem letzten Arbeitgeber gesagt habe, dass ich gern aufgrund der Erkrankung meine Stunden reduzieren möchte, hatte ich eine Woche später die Kündigung in der Hand."
Angestellte verschweigen ihre Gesundheitsprobleme oft
Ina Schöllgen, Forscherin an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sagt, die Angst vor solchen Konsequenzen sei der Grund dafür, dass viele Angestellte ihre Erkrankung lieber für sich behielten. "Ein Großteil der Gesundheitsprobleme in den Betrieben ist vermutlich gar nicht bekannt, weil eben viele Beschäftigte sich gar nicht dazu äußern, aus Angst vor Stigmatisierung und davor, dass sie dann vielleicht ihre Tätigkeit aufgeben müssen."
Viele versuchten stattdessen die Leistungsanforderungen zu erfüllen, die an sie gestellt werden und würden im Zuge dessen noch kränker, sagt Schöllgen. Die Forscherin kritisiert die politische Rhetorik gegen Vier-Tage-Woche und "Work-Life-Balance" als stigmatisierend. Schöllgen findet, dass stattdessen darauf hingewirkt werden müsse, dass chronisch Kranke im Arbeitsschutz ganz selbstverständlich mitgedacht würden. "Immerhin gibt es rein statistisch wahrscheinlich in jedem Betrieb chronisch kranke Angestellte."
Tatsächlich gaben 2023 einer EU-Statistik zufolge rund 35 Prozent der Deutschen an, eine oder mehrere chronische Krankheiten zu haben. Insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Lungenerkrankungen, Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, psychische Störungen und Diabetes mellitus sind dem Robert-Koch-Institut zufolge weit verbreitet.
Flexible Arbeitsbedingungen helfen chronisch Kranken am meisten
Schöllgen sagt, Unterstützung durch Kollegen und Führungskräfte sei zentral. "Dazu gehört auch Entwicklungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten aufzuzeigen." Was chronisch kranken Angestellten im Arbeitsalltag aber am meisten helfe, seien flexible Arbeitsbedingungen, etwa zusätzliche Pausen oder Gleitzeitmodelle. "Weil sich eben die erkrankten Beschäftigten neben Arbeit und Privatleben auch noch zusätzlich um ihre Gesundheit kümmern müssen."
Auch Homeoffice sei hilfreich, sagt Schöllgen. "Es geht einem ja nicht an jedem Tag gleich und Homeoffice kann helfen die Schwankungen in den Symptomen auszugleichen." Generell sei es hilfreich den Handlungsspielraum zu erweitern, sodass die Beschäftigten ihre Arbeitsaufgaben zu einem gewissen Maß ihrem Befinden anpassen können.
Unter Schmerzen arbeiten: Normal für eine Zahnärztin mit Neurodermitis
Ihren Job ihren Bedürfnissen anzupassen, das hat auch der 35-jährigen Silke geholfen. Sie ist Zahnärztin und leidet unter Neurodermitis an den Händen. "Es hat sich vielleicht jeder schon mal irgendwie an einem Stück Papier die Hand aufgeschnitten. Das stelle man sich jetzt komplett in der ganzen Hand vor und dazu noch sehr stark juckende Pusteln, wie Mückenstiche."
Ich bin mehrfach nachts wach geworden, weil ich mir am liebsten die Hände weggekratzt hätte.

Das Ekzem wird schlimmer, wenn Silke Stress hat, wenn sie stundenlang Handschuhe tragen muss und die Haut schwitzt. Dann schmerzt jede Bewegung, selbst Hände waschen – als Zahnärztin. Bemerkungen von Patienten, denen Silkes rote, aufgesprungene Hände auffallen, belasten sie auch psychisch. Und selbst im Schlaf gibt es keine Ruhe: "Ich bin mehrfach nachts wach geworden, weil ich mir am liebsten die Hände weggekratzt hätte."
Sich krankzumelden hat Silke trotzdem immer vermieden – bis es so schlimm wurde, dass selbst ihr Chef sagte, sie müsse etwas tun. Silke fährt zur Reha, findet ein Medikament, das hilft. Und sie beginnt, den Job ihren Bedürfnissen anzupassen. "Ich habe mir eine Spezialisierung gesucht, wo ich nicht standardmäßig acht Stunden pro Tag in Handschuhen am Stuhl stehe. Ich mache Hausbesuche, wo die Hände zwischendurch nicht in Handschuhen stecken und sich erholen können."
Chronisch Erkrankte hoffen auf mehr Verständnis in der Gesellschaft
Katrin und Silke arbeiten beide darauf hin, mehr Verständnis für ihre Erkrankungen in ihrem Umfeld zu schaffen. Silke erzählt, sie hätte sich mehr Achtsamkeit von ihren Kollegen gewünscht: "Dass mal jemand fragt, wie es mir geht, ob ich etwas brauche, eine Empfehlung für ein Medikament vielleicht." Heute ist sie diejenige, die proaktiv auf neue Kolleginnen zugeht, Hilfe anbietet und Empfehlungen zur Hautpflege gibt.
Ich fände es schön, wenn wir niemandem einen Stempel aufdrücken.
Katrin geht besonders in ihrem Freundeskreis offen mit ihrer Erkrankung um, um mehr Verständnis zu schaffen. "Gerade weil es eine psychische Erkrankung ist, die nicht sichtbar ist, ist es teilweise auch schwer, das zu erklären." Leute hätten oft eine falsche Vorstellung. "Ich fände es schön, wenn wir niemandem einen Stempel aufdrücken, sondern einfach sagen, okay, ich informiere mich jetzt oder ich spreche einfach mal jemandem darauf an und frage, ob er darüber reden möchte."
MDR (ewi)
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