• In Social Media ist alles auf Reaktion ausgelegt: Annekathrin Kohout nennt das "Hyperinterpretation".
  • In ihrem Buch analysiert sie diese Reaktionskultur und wie sie sich auf unser Privatleben, die Kommunikation und die Politik auswirkt.
  • Klicks, Likes und Kommentare forcieren Kohouts Meinung nach die Diskurse, doch allein das Bewusstsein dafür könne Veränderung bewirken.

MDR KULTUR: Was genau meinen Sie mit "Hyperinterpretation" und was passiert, wenn Resonanz wichtiger ist als der Inhalt?

Annekathrin Kohout: Ich versuche in den sozialen Medien ein mediales Umfeld zu erkunden, in dem alles auf Reaktion ausgelegt ist – allein schon von der Architektur der Plattformen her. Man kann und soll eben jeden Beitrag liken, kommentieren und so weiter, und ich versuche zu zeigen, wie sich die technologischen Eigenheiten dieser Plattformen in unsere Kultur und in unser Miteinander eingeschrieben haben. Weil: Reagieren heißt auch bewerten, kritisieren, in Frage stellen, anzweifeln, verachten, vielleicht sogar hassen. Hyperinterpretation ist für mich sozusagen eine bestimmte Art von Reaktion.

Mit "Hyperreaktiv" hat Annekathrin Kohout nach Ansicht ihres Verlags eine "Bestandsaufnahme unserer digitalen Gegenwart" geschrieben.Bildrechte: Wagenbach Verlag

Im besten Sinne ist Interpretation etwas, mit dem wir etwas besser verstehen. Hyperinterpretation ist dabei eine Art von instrumentellem Verstehen: Wir versuchen eigentlich, die Interpretation so strategisch einzusetzen, dass sie den Diskurs im Idealfall verschiebt. Weil wir auch wissen, mit jeder Reaktion, mit jeder Interpretation, die auch veröffentlicht wird, nehmen wir an einem öffentlichen Diskurs teil und können damit auch Narrative verschieben.

Hyperinterpretation ist eine Art von instrumentellem Verstehen: Wir versuchen, die Interpretation so strategisch einzusetzen, dass sie den Diskurs im Idealfall verschiebt.

Annekathrin Kohout, Autorin und Kulturwissenschaftlerin

Sie sagen: Die Folgen von Hyperinterpretation sind Misstrauen und Zynismus – nicht nur im Netz. Was hat das für Auswirkungen auf die Gesellschaft?

Die Folgen interessieren mich auf verschiedenen Ebenen. Es gibt einerseits eine persönliche Ebene, auf der Reaktionen unseren Alltag strukturieren. Wir gewöhnen uns daran, ständig Resonanz zu suchen und zu geben, was uns natürlich auch empfänglich macht – sowohl für Bestätigung als auch für Kritik. Viele erleben deshalb Stress, Überforderung und das Gefühl, permanent bewertet zu werden und umgekehrt, sich positionieren zu müssen. Das ist so ein fiebriger Zustand, den ich auch meine, wenn ich "hyperreaktiv" sage, so heißt ja das Buch.

Diskussionen werden oft sehr polarisiert, weil extreme Positionen einfach mehr Reaktionen hervorrufen.

Annekathrin Kohout, Autorin und Kulturwissenschaftlerin

Die Reaktionskultur verändert aber auch unsere Kommunikation: Diskussionen werden oft sehr polarisiert, weil extreme Positionen einfach mehr Reaktionen hervorrufen. Und nicht zuletzt hat die Reaktionskultur auch Einfluss auf politische Prozesse. Politiker reagieren viel stärker auf die Empörungswellen in den sozialen Medien als noch vor einigen Jahren. So verschiebt sich oft, was überhaupt noch als wichtiges Thema gilt.

Wie wirkt sich das konkret auf Journalismus und Wissenschaft aus, wenn am Ende nur noch die Reaktionen zählen?

Allein Wörter wie "Klickbaiting" im Journalismus zeugen davon, dass diese Mechanismen wahrgenommen werden. Dass man auch da Formate braucht, die auch in den sozialen Medien anschlussfähig sind, weil sie vielleicht reaktionstauglich sind. Diese Formate lassen sich in den klassischen Medien finden und auch in der Wissenschaft.

Das heißt, dass es immer weniger Zeit für eine ernstzunehmende Verständigung gibt, bei der es immer möglich gewesen ist, verschiedene Positionen gleichzeitig zu betrachten und gegeneinander abzuwägen, und dass selbst diese Felder unter großem Druck stehen, sich zu verändern und Social-Media- und reaktionstauglich zu werden.

Ich glaube, dass das erstmal ein großer Verlust ist und dass es eine gesellschaftliche Aufgabe ist, diese Felder in ihrer Freiheit zu bewahren. Ich gehe das im Buch systematisch durch: Wie sehen journalistische Artikel aus? Wie sieht ein wissenschaftliches Buch aus, das eher darauf zielt, anschlussfähig in einer Diskurskultur zu sein, als wirklich in einem Thema weiterzukommen?

Es wird oft nach Medienkompetenz gerufen – doch Sie bezweifeln, dass Medienkompetenz hilft. Das klingt so aussichtslos.

Ich hätte dieses Buch nicht geschrieben, wenn ich nicht daran glauben würde, dass allein das Wissen darüber, wie diese Reaktionskultur funktioniert, etwas bewirkt. Schon die Sensibilität dafür, dass wir mit jeder Reaktion, mit jedem Like, mit jedem Klick, mit jedem Video, was wir uns länger als zwei Sekunden anschauen, bestimmte Themen setzen: Weil wir so unsere Aufmerksamkeit verteilen und an dem Diskurs mitwirken.

Klicks statt Inhalt – in ihrem Buch "Hyperreaktiv" analysiert Annekathrin Kohout, wie wir mit unseren Reaktionen in den sozialen Medien die Gesellschaft verändern.Bildrechte: picture alliance/dpa | Jens Büttner

Ich glaube auch, dass ein breiteres Bewusstsein für diese Mechanismen auf längere Sicht Veränderung mit sich bringen kann. Und wie wir alle wissen, sind wir von großen monopolistischen Plattformen abhängig und eingeschränkt. Da ist der Handlungsspielraum sehr begrenzt. Aber mal nicht zu reagieren, mal nicht in Social Media zu gehen, wenn man sich das verkneifen kann, weil man dort nicht beruflich arbeitet, ist schon ein guter Weg.

Informationen zum Buch

Annekathrin Kohout: "Hyperreaktiv: Wie in Sozialen Medien um Deutungsmacht gekämpft wird"
Erschienen im Verlag Klaus Wagenbach
160 Seiten | 18 Euro, E-Book 15,99 Euro
ISBN 978-3-8031-3762-3

Quelle: MDR KULTUR (Gespräch Carsten Tesch mit Annekathrin Kohout)
Redaktionelle Bearbeitung: jb, tmk

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