Ostdeutsche Erfahrungen sind eine Ressource in unsicheren Zeiten
- Viele ostdeutsche Biografien beinhalten Lücken und Brüche – bis heute ein Grund, warum Ostdeutsche in Führungspositionen fehlen.
- Doch die Gesellschaft verpasst hier viel, was in unsicheren Zeiten wichtig ist.
- Ostdeutschland ist zuletzt wieder mehr ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten gerückt.
- Unsere Gesellschaft steht unter Druck – die Erfahrungen im Osten können helfen, damit umzugehen.
"Ich hab mich nie als Ostdeutsche gefühlt – schon gar nicht, als ich im Ausland gelebt habe." Das sagte mir kürzlich eine Freundin. Sie stammt wie ich aus Ostdeutschland, lebt heute in der Schweiz – und findet die andauernde Debatte um das 'Ostdeutschsein' eher ermüdend. Viele Ostdeutsche fühlen sich nicht ostdeutsch. Warum auch? Herkunft sollte kein Label sein. Und trotzdem bleibt sie relevant, ob gewollt oder nicht: in Lebensläufen, in Bewerbungsgesprächen, in Aufstiegsfragen.
Die klassische Karrierebibel sieht keine ostdeutschen Lebensläufe vor. Brüche, Lücken, nicht anerkannte Berufsabschlüsse und Wartezeiten fürs komplizierte Nachdiplomieren müssen erklärt werden. Viele ostdeutsche Biografien beinhalten genau das: Lebenswege mit plötzlichen Veränderungen, zweite und dritte Karrierepfade, Phasen von Arbeitslosigkeit und quälende Existenzfragen. Für viele Personalerinnen und Personaler sind das Warnzeichen, bisweilen Ausschlusskriterien.
Das ist selbstverständlich nur ein Aspekt von vielen, warum Ostdeutsche in Führungspositionen immer noch unterrepräsentiert sind, wie der Elitenmonitor alljährlich zeigt. Aber die Diskrepanz ist weithin spürbar: zwischen dem Wunsch, Herkunft als irrelevant zu behandeln – und dem Fakt, dass Herkunft nach wie vor Aufstiegschancen beeinflusst.
Ostdeutsche Erfahrungen als Ressource
Doch was die Gesellschaft, die Arbeitswelt, unsere Gemeinschaft durch die Sichtbarkeit dieser Brüche verpasst, wiegt aus meiner Sicht schwer: Ostdeutsche Erfahrungen setzen sich aus Momenten des Perspektivwechsels zusammen, dem Wissen um die Unbeständigkeit des Status Quo. Diese kollektiven Erfahrungen sind kein Makel, sondern eine Ressource – gerade in einer Zeit, die Wandel fordert.
Ich bin 1987 in Gera geboren, aufgewachsen in den neunziger Jahren in einem Ostdeutschland, das sich in vielerlei Hinsicht im Aufbruch befand und doch von Unsicherheit geprägt blieb. Vieles veränderte sich schnell: Landstraßen, Läden, Lehrpläne. Was wir davon bewusst mitbekamen, war vor allem Bewegung – kein Stillstand. Die Prägung durch die Nachwendejahre zeigte sich für mich zunächst mehr in einem Grundgefühl der Elterngeneration als in konkreten Erzählungen: Anpassung war notwendig. Flexibilität war die Überlebensstrategie.
Mein Leben, auch meinen Blick auf Arbeit, hat das bis heute geprägt. Der Wille, die Dinge selbst bestimmen zu können und unbedingt selbst handlungsfähig zu bleiben, ist an vielen Tagen Antrieb, an manchen bleibt die Erkenntnis: Nicht alles lässt sich mit eigener Motivation lösen, nicht alle Umstände sind selbst gestaltbar.
Ostdeutsche Herkunft als Erzählung von Anpassung, Wandel und Gestaltungskraft
In den vergangenen Jahren ist Ostdeutschland wieder stärker ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten gerückt. Und dass Identität heute wieder eine stärkere Rolle spielt, hat viel mit den Multikrisen unserer Zeit zu tun. In einer Welt voller Unsicherheiten suchen Menschen nach Ankern – und Herkunft wird einer dieser Anker. Auch die ostdeutsche Erfahrung wird dadurch wieder sichtbarer: als Erzählung von Anpassung, Wandel und Gestaltungskraft.
Als Chefredakteurin des Mitteldeutschen Rundfunks trage ich heute auch Verantwortung dafür, wie sichtbar ostdeutsche Lebenslagen in der Öffentlichkeit sind. Ich verstehe viele Menschen aus meiner Generation, wenn sie sagen, dass sie sich nicht ostdeutsch fühlen oder es ablehnen, qua ihrer Herkunft als Ostdeutsche benannt zu werden. Weil sie sich damit limitiert fühlen. Und dennoch: Ostdeutschsein ist für mich keine kulturelle Identität im klassischen Sinn. Vielmehr ist es eine geteilte Erfahrung: eine Summe von Erlebnissen, die viele Ostdeutsche miteinander verbindet, eine in Teilen gemeinsame Perspektive – unabhängig davon, ob sie heute in Leipzig oder in Stuttgart leben. Für mich bedeutet ostdeutsche Identität vor allem eines: eine geteilte Prägung durch Erfahrung. Die Sichtbarkeit und Akzeptanz ostdeutscher Erfahrungen ist daher auch keine Geste der Höflichkeit. Sie ist Anerkennung von Realität, und sie ist Voraussetzung für Vertrauen.
Ostdeutschland kann ein Kompetenzraum sein
Unsere Gesellschaft steht heute unter Druck: wirtschaftliche Rezession, Ängste vor Krieg, globale Instabilität. Gerade jetzt können ostdeutsche Erfahrungen wichtig sein. Wer nach 1989 in Ostdeutschland aufgewachsen ist, weiß über die Erfahrungen der Eltern-Generation und damit aus dem eigenen unmittelbaren Erleben wie es ist, Sicherheiten zu verlieren und trotzdem neue Wege zu finden. Anpassungsfähigkeit, Pragmatismus und Gestaltungskraft sind Fähigkeiten, die heute dringender gebraucht werden denn je. Dieses Wissen gehört aktiv eingebunden: in die Gestaltung wirtschaftlicher Transformation, in neue Ansätze sozialer Gerechtigkeit, in politische Entscheidungsprozesse. Ostdeutschland ist kein Rückzugsraum. Es kann Kompetenzraum für das ganze Land sein.
Eine ausführlichere Variante dieses Kommentars ist am 15. September im Sammelband "Denke ich an Ostdeutschland ..." im Prima Vier-Verlag erschienen. Neben Christin Bohmann haben 53 weitere Personen darin Beiträge verfasst, unter anderem Mario Czaja, Franziska Schenk, Manuela Schwesig, Petra Köpping, Paula Piechotta und Bodo Ramelow.
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