Startpunkt aller Krisen: Als der Lockdown in Deutschland endlos schien
Vor fünf Jahren begann der zweite harte Corona-Lockdown in Deutschland. Restaurants, Theater und Friseure mussten schließen, Kitas und Schulen blieben nur unter strengen Auflagen geöffnet, Eltern mussten sich an Wechselunterricht und Homeschooling gewöhnen. Fast ein halbes Jahr lang arbeiteten alle, die konnten, vom Homeoffice aus. Nur ganz langsam wurden die Maßnahmen im Frühjahr wieder zurückgenommen, viele Regeln galten bis Ende Mai. Rückblickend ist es für viele Menschen der Beginn der großen Krise der Gesellschaft.
"Die Pandemie ist im Bewusstsein die zentrale zeitliche Marke, ab der die Welt irgendwie unaufgeräumter wurde. Mit ihr ist eine neue Stimmung in der Welt verbunden, und das lautet Krise", fasst Sarah Herbst zusammen. Die Soziologin forscht an der Universität Göttingen zusammen mit Berthold Vogel darüber, wie die Pandemie und ihre Folgen die Arbeitswelt verändert haben.
Corona als kollektive Erfahrung: Warum die Erinnerungen trotzdem sehr unterschiedlich sind
Sarah HerbstBildrechte: Universität GöttingenHerbst befragte zusammen mit ihren Kollegen während des Lockdowns rund 60 Personen aus unterschiedlichen Berufen. Mit 25 von ihnen sprach sie nach dem Ende der Maßnahmen ein zweites Mal. Dabei fällt auf: Die Erinnerungen sind sehr unterschiedlich. "Corona ist im Grunde genommen zwar eine kollektive Erfahrung. Aber jeder hat ganz persönliche Erlebnisse aus dieser Zeit, die präsent und prägend sind", sagt sie.
Interessanterweise haben ihr viele Gesprächspartner erzählt, wie positiv sie den Beginn der Pandemie in Erinnerung haben. Es ist wie eine Stunde Null, ein historischer Moment, und zunächst hält die Gesellschaft zusammen. Viele Menschen ziehen sich in ihre Häuser und Wohnungen zurück, einige aber müssen durch ihre Berufe nach draußen. "Eine Kassiererin in einem Supermarkt hat erzählt, dass sich die Kunden bei ihr überschwänglich bedankt haben, dass sie dann noch Schokolade mitgekauft und ihr geschenkt haben."
Vom Zusammenhalt zur Enttäuschung: Wie Pandemie und neue Krisen die Stimmung kippen
Doch im Winter dreht sich das Bild, als die Pandemie kein Ende zu nehmen scheint. Zwar rollt die Impfkampagne an, doch es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis alle, die sich impfen lassen wollen, auch eine Impfung bekommen. Im Herbst und Winter 2021/22 zeigt sich dann: Die Impfung reduziert zwar die Zahl der schweren Infektionen drastisch, sie verhindert aber Ansteckungen nicht. Viele sind enttäuscht.
Im Februar 2022 überfällt Russland die Ukraine. Die Energiepreise schießen in die Höhe, die Inflation steigt und die Wirtschaft in Deutschland rutscht in die Rezession. Das Ende der Corona-Regeln bedeutet für viele Branchen also nicht, dass die Probleme kleiner werden. Im Gegenteil. Gastronomen, mit denen Sarah Herbst spricht, erzählen ihr, "dass die gegenwärtige Situation nur derart so schlimm ist, weil es die Pandemie gab."
Stress statt Applaus: Wie sich die Wertschätzung für systemrelevante Berufe verändert hat
Doch auch für die Kassiererinnen ändert sich das Gefühl wieder. Der Applaus verschwindet, ihr Ansehen sinkt wieder. Eine Gesprächspartnerin erzählt, sie habe das Gefühl, „dass Menschen zunehmend unter Stress stehen, es ein Aufholen und ein Nachholen gibt, ein extremes Tempo, und dass sich der Stress der Menschen dann an der Supermarktkasse entlädt".
Für die Fehler der Politik, den Flickenteppich der Regeln und das Hin und Her haben die meisten Interviewpartner der Soziologin im Rückblick Verständnis. Es sei eben eine Ausnahmesituation gewesen. Dafür haben sie heute viel weniger Geduld mit der Regierung. Einige Interviews führt Sarah Herbst, als die Ampelkoalition gerade über das Heizungsgesetz streitet. "Da wurde gesagt: Was jetzt gerade passiert, das übertrifft wirklich alles."
Gesellschaft im Dauerkrisenmodus: Warum Hoffnung heute Mangelware ist
Der Befund der Soziologin: Die Gesellschaft hat seit Corona nicht aus dem Krisenmodus herausgefunden. Und es gibt gerade kaum Menschen, die Hoffnung auf bessere Zeiten stiften, zumindest nicht vor großem Publikum. Trotzdem gibt es einige, die unermüdlich gegen die Krisen kämpfen. "Ich habe mit einer Sozialarbeiterin in der Wohnungslosenhilfe und einer Person in der Bahnhofsmission gesprochen, und die hatten eine extrem hohe Bereitschaft, psychosoziale Folgen von jedweden Krisen aufzufangen, abzufedern und ihnen auch etwas entgegenzusetzen", sagt Herbst mit Bewunderung.
Die wichtigste Botschaft aus diesen Gesprächen lautet vielleicht: Um Krisen zu überwinden, braucht es Mut.
Links/Studien
- Herbst, Matz, Vogel (2023): Gleichzeitig ungleich. Inmitten der pandemischen Arbeitswelt. Frankfurt a. M./New York: Campus.
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