Wenn alles hinterfragt wird: Warum der Kinderwunsch keine Selbstverständlichkeit mehr ist
Immer mehr Frauen und Paare in Deutschland entscheiden sich bewusst dafür, keine Kinder zu bekommen. Statistisch ist dieser Trend lange belegt: Gesellschaften mit hohem Lebensstandard haben niedrige Geburtenraten. Dieses sogenannte demografisch-ökonomische Paradoxon ist gut erforscht – und dennoch bleibt die Entscheidung für oder gegen Kinder für viele hoch emotional und konfliktreich.
Denn Kinderkriegen galt lange als selbstverständlich. Genau diese Selbstverständlichkeit gerät heute ins Wanken.
Frühere Selbstverständlichkeiten werden hinterfragt
Im MDR-Wissen-Podcast "Die Großen Fragen in 10 Minuten" beschreibt Philosoph Konrad Ott den Kinderwunsch als Teil einer tief verankerten kulturellen Grundannahme. Er spricht von einer "lebensweltlichen Hintergrundüberzeugung", die das Menschsein über Generationen geprägt habe. "Und diese lebensweltliche Hintergrundüberzeugung können wir jetzt natürlich in Frage stellen", sagt Ott.
Doch genau darin liege die Brisanz. Denn die Lebenswelt sei "das Reservoir unserer tiefen Hintergrundüberzeugungen, wie Menschsein eigentlich funktioniert". Eine dieser Überzeugungen laute: "Menschsein funktioniert nur in der Generationenfolge." In der Moderne werde diese Gewissheit erstmals systematisch geprüft. "Die Lebenswelt war ein Reservoir von Selbstverständlichkeiten, die man nicht in Frage stellen konnte." In der Moderne aber komme alles auf den Prüfstand, auch die Frage, ob man Kinder bekommen möchte oder nicht.
Freiheit, Rationalität und Überforderung
Diese neue Freiheit kann Orientierungslosigkeit mit sich bringen. Viele Menschen versuchen daher, die Kinderfrage rational zu entscheiden – obwohl sie sich rational kaum beantworten lässt. Ott verweist darauf, dass selbst Ökonomen daran scheitern. "Wenn man genau weiß, wie viel Aufwand ein Kind bedeutet, wie viel Pflege, wie viel Zuwendung, wie viel Zeit – und das Ganze zieht sich über 18, 20 Jahre."
Ökonomisch lasse sich das kaum rechtfertigen. Manche bezeichneten Kinder deshalb als "ein extrem teures Hobby". Rational betrachtet koste es "so viel Zeit und Geld und Transaktionskosten, ökonomisch kaum darstellbar". Dennoch würden sich viele Menschen weiterhin für Kinder entscheiden – offenbar aus Gründen, die sich nicht berechnen lassen.
Kind ja oder nein: Oft eine Frage des Zeitpunkts und des psychologischen Typs
Hinzu kommen biografische Zwänge. Die Phase der Ausbildung und beruflichen Etablierung fällt häufig in die biologisch fruchtbarste Lebenszeit. Später wird das Zeitfenster enger – und dann müssen Beziehung, Wohnung, Einkommen und Lebensplanung passen. Der richtige Zeitpunkt scheint für viele entweder zu früh oder zu spät zu kommen. Die Entscheidung wird vertagt, abgewogen, neu bewertet – und damit oft immer schwerer.
Warum aber geraten manche Menschen besonders stark ins Grübeln, während andere diese Frage kaum beschäftigt? Die Psychologin Lea Dohm verweist auf unterschiedliche psychologische Muster. "Es scheint tatsächlich so zu sein, dass es Menschen gibt, die nachdenklicher sind", sagt sie, "vielleicht auch mit einer kleinen depressiven Akzentuierung – ohne, dass sie depressiv sind." Gemeint sei ein reflektierender Blick auf die Welt, ein ständiges Hinterfragen.
"Menschen, die dazu neigen, solche Sachen durchdenken zu wollen, verstehen zu wollen, haben möglicherweise eine höhere Wahrscheinlichkeit, dann auch in so einer kritischen Reflexion der Kinderfrage zu landen", sagt Dohm. Andere wollten genau diese Überforderung vermeiden. "Da gibt es dann wie so eine Gegentendenz zu sagen: Das ist mir jetzt irgendwie zu schwer, ich möchte das einfach, Punkt." In der Psychologie unterscheide man hier zwischen problemfokussiertem und emotionsfokussiertem Umgang mit schwierigen Entscheidungen: Die einen wollen einem Problem auf den Grund gehen, die anderen die damit verbundenen negativen Emotionen vermeiden.
Wenn Haltungen aufeinandertreffen
Warum kriegt ihr keine Kinder? Diese Frage dürfte in der zurückliegenden Weihnachtszeit, in der verschiedene Generationen beieinander waren, wieder vermehrt gestellt worden sein. Unterschiedliche Herangehensweisen an diese Frage können schnell zu Spannungen führen, sagt Psychologin Dohm, besonders in Familien. Wer sich selbst klar entschieden hat, bewertet andere Entscheidungen oft durch die eigene Brille. Schnell entstehe der Gedanke: "Dann stimmt vielleicht bei dir irgendwas nicht."
Gerade hier rät die Psychologin zur Zurückhaltung: Es brauche "eine gewisse Kunst – und vielleicht auch ein bisschen Milde oder Reife – zu sagen: Es ist deine Entscheidung."
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